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Qualitätskriterien für Lotsendienste in Geburtskliniken

Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) hat in einem Eckpunktepapier 14 zentrale Qualitätskriterien für Lotsendienste der Frühen Hilfen in Geburtskliniken veröffentlicht.

Ausgangpunkt der in dem Papier formulierten Qualitätskriterien sind die Ergebnisse einer bundesweiten Recherche des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ism) im Auftrag des NZFH. Diese wurden von Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen und Ebenen diskutiert. In einem Eckpunktepapier haben Dr. Sarah Schmenger und Elisabeth Schmutz (ism) sowie Jörg Backes und Dr. Sara Scharmanski (NZFH, BZgA) den Arbeitsprozess erläutert, die daraus resultierenden Qualitätskriterien zusammengefasst und umfassend beschrieben. So geben beispielsweise Daten aus dem ZuFa-Monitoring Geburtsklinik des NZFH Hinweise zum Stand der Umsetzung und Verbreitung des jeweiligen Kriteriums in der Praxis.

Die Qualitätskriterien müssen dabei im Zusammenhang mit den Rahmenbedingungen vor Ort gesehen werden, wie bestehende Kooperationsbeziehungen, Netzwerk- und Angebotsstrukturen in den Kommunen und Größe und Ausstattung der Geburtskliniken.

Sie können Impuls und Grundlage für die Einrichtung, Weiterentwicklung und Profilierung von Lotsendiensten der Frühen Hilfen darstellen.

Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung eines Lotsendienstes aus Geburtskliniken in die Frühen Hilfen ist eine eindeutige Leitungsentscheidung für die Einführung entsprechender Strukturen und Prozesse. Damit wird die Legitimationsbasis geschaffen, hierfür zeitliche, personelle und materielle Ressourcen einzusetzen und einen Klärungsprozess zum genauen Umsetzungsmodell mit allen beteiligten Stellen innerhalb der Klinik und der zuständigen kommunalen Strukturen (insbesondere der Frühen Hilfen) einzuleiten. Der Lotsendienst sollte als Angebot in den zuständigen Fachausschüssen Gesundheit und Kinder- und Jugendhilfe bekannt sein.

In einem schriftlich ausgearbeiteten Konzept zur konkreten Umsetzung des Lotsendienstes sind dessen Zielsetzung, das genaue Vorgehen bzw. die einzelnen Prozessschritte sowie die Beteiligten und Verantwortlichen einschließlich ihrer Aufgaben beschrieben. Das Konzept sollte von der Klinik und den beteiligten Kommunen (Jugendamtsbezirke/Gesundheitsämter) gemeinsam getragen und vereinbart werden (vgl. Punkt 1). Kooperiert eine Klinik ihrem Einzugsbereich entsprechend mit mehreren Jugendamtsbezirken/Gesundheitsämtern, sollte das Konzept Überleitungswege und Ansprechpartner zu diesen beinhalten. Eine solche schriftliche Beschreibung ermöglicht allen am Lotsendienst beteiligten Akteuren die Vergewisserung über die zentralen inhaltlichen und organisatorischen Aspekte bei der Ausgestaltung des Lotsendienstes.

Auf diese Weise dient das Konzept für alle Beteiligten als Orientierungshilfe bei der Umsetzung sowie als Bezugspunkt für die Reflexion der eigenen Arbeit und damit der Qualitätsentwicklung.

Der Lotsendienst benötigt eine strukturelle, institutionelle Verortung, um ausreichend Kontinuität und Verlässlichkeit in der Aufgabenwahrnehmung gewährleisten zu können, und sollte im Organigramm der Klinik abgebildet sein. Diese strukturelle, institutionelle Verortung kann entweder innerhalb oder außerhalb der Geburtsklinik liegen. Das bedeutet zugleich, dass die Lotsin bzw. der Lotse entweder bei der Klinik selbst oder bei einer kooperierenden Institution aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der Schwangerschaftsberatung oder auch des Gesundheitswesens angestellt sein kann. Welches Modell der institutionellen Anbindung des Lotsendienstes gewählt wird, empfiehlt sich in Abhängigkeit von den jeweiligen Strukturen und Rahmenbedingungen vor Ort zu klären. In der Praxis finden sich Beispiele für beide Modelle, die jeweils Vor- und Nachteile haben.

Eine Lotsin bzw. ein Lotse, die oder der Teil des Klinikpersonals ist, kennt in der Regel die Strukturen der Klinik und ist innerhalb des Teams bereits bekannt und akzeptiert. Insofern fällt es dann auch dem Klinikpersonal leichter, Kontakt mit der Lotsin bzw. dem Lotsen aufzunehmen und Beobachtungen mit dieser bzw. diesem zu teilen.

Ist die Lotsin bzw. der Lotse bei einer externen Institution angestellt und kommt mit einem bestimmten Stundenkontingent in die Klinik, um die Lotsentätigkeit auszuüben, ist sie bzw. er zunächst nicht Teil des Teams innerhalb der Klinik und dort unter Umständen noch nicht bekannt. Hier gilt es zunächst, sich bekannt zu machen, das Vertrauen der Klinikmitarbeitenden zu gewinnen und die Klinikstrukturen und -abläufe kennenzulernen. Gleichzeitig verfügt die externe Lotsin bzw. der externe Lotse über die Anstellung bei einem Träger der Kinder- und Jugendhilfe oder des Gesundheitswesens bereits häufig über Kontakte in weiterführende Unterstützungsangebote, von denen sie bzw. er bei der Vermittlung der Familien profitieren kann. Dieses Wissen muss sich die Lotsin bzw. der Lotse, die bzw. der an der Klinik angestellt ist, erst durch die Kooperation mit externen Partnerinnen und Partnern aus Kinder- und Jugendhilfe und/oder Gesundheitswesen sowie durch die Teilnahme an entsprechenden Netzwerken aneignen.

In beiden Fällen sind beim Austausch geltende Datenschutzbestimmungen zu berücksichtigen. Doch gerade in Bezug auf Datenschutz- und Schweigepflichtbestimmungen ist in Geburtskliniken eine große Unsicherheit vorhanden, wie Ergebnisse des ZuFa-Monitorings Geburtsklinik belegen: Knapp 30 Prozent der Befragten berichten, dass Unsicherheiten in diesen Bereichen die Vermittlung von Familien erschweren. Hier kann die NZFH-Publikation "Datenschutz bei Frühen Hilfen" den Lotsinnen und Lotsen eine gute Orientierung und Unterstützung sein.

Kooperation und Vernetzung sind für die Umsetzung eines Lotsendienstes aus Geburtskliniken in die Frühen Hilfen von großer Bedeutung. Um Eltern bedarfsgerecht und passgenau über weiterführende (Frühe) Hilfen bzw. Unterstützungsangebote informieren und sie dorthin weitervermitteln zu können, ist es notwendig, dass die Lotsin bzw. der Lotse die bestehenden Angebote im Sozialraum sowie deren Träger gut kennt. Insbesondere für Lotsinnen und Lotsen, die an der Klinik angestellt sind, ist es daher wichtig, an den bestehenden Netzwerken der Frühen Hilfen aktiv teilzunehmen. Die Teilnahme ist eine gute Möglichkeit, das eigene Wissen um Angebote zu erweitern, aber auch, sich selbst im Netzwerk bekannt zu machen und potenzielle Kooperationspartnerinnen und -partner kennenzulernen.

Auch zu diesem Qualitätskriterium liegen Verteilungsdaten aus dem ZuFa-Monitoring Geburtsklinik vor: Knapp 60 Prozent der Geburtskliniken nehmen an Netzwerktreffen Früher Hilfen teil. Des Weiteren zeigte sich, dass Kliniken mit einem Lotsendienst bei der Versorgung von psychosozial belasteten Familien deutlich häufiger mit anderen Akteuren und Einrichtungen des lokalen Netzwerks zusammenarbeiten und in diese überleiten als Kliniken ohne Lotsendienst. Familien werden deutlich häufiger in niedrigschwellige, sekundärpräventive Angebote übergeleitet, wenn ein Lotsendienst in der Geburtsklinik vorhanden ist.

Der Prozess von der Aufnahme der Familie in der Klinik über die Wahrnehmung und Abklärung von Unterstützungsbedarfen bis hin zur Vermittlung in weiterführende Unterstützungsangebote besteht aus vielen einzelnen Teilschritten. An diesem Prozess sind verschiedene Professionen und Fachbereiche beteiligt, die z. T. im Alltag nur wenige Berührungspunkte miteinander haben. Dies trägt dazu bei, dass Familien mit Unterstützungsbedarf gegebenenfalls "übersehen" werden oder innerhalb der unterschiedlichen Leistungssysteme unversorgt bleiben. Insofern braucht es eine Person für den Lotsendienst, die als Ansprechpartnerin bzw. -partner für die verschiedenen Professionen zur Verfügung steht und Kooperationsbeziehungen zwischen den unterschiedlichen beteiligten Leistungssystemen aufbaut. Die Umsetzung des Lotsendienstes aus Geburtskliniken in die Frühen Hilfen ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die Kenntnisse und Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen erforderlich macht. Dazu gehören insbesondere:

  • das Wissen um Risiko- und Schutzfaktoren bei Eltern und Kindern für die kindliche Entwicklung,
  • Kenntnis der verschiedenen Beratungs-, Unterstützungs- und Finanzierungsleistungen für junge Familien,
  • eine spezifische Sensibilität für die besondere Situation und die Herausforderungen rund um die Geburt sowie
  • (interkulturelle) Gesprächsführungs- und Beratungskompetenzen.

Um die herausfordernde Lotsentätigkeit bewältigen zu können, muss sie von einer Fachkraft übernommen werden und kann nicht von Ehrenamtlichen bzw. Freiwilligen geleistet werden. In der Praxis finden sich Lotsinnen und Lotsen, die einen (sozial-)pädagogischen Hintergrund haben oder aus dem Gesundheitswesen stammen, insbesondere (Familien-)Hebammen oder Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegende (FGKiKP). Es muss gewährleistet sein, dass die Lotsin bzw. der Lotse über die für die Umsetzung des Lotsendienstes nötigen Kompetenzen und Befugnisse verfügt. Als zielführend haben sich ergänzende aufgabenspezifische Schulungen für die Fachkraft erwiesen.

Weiterhin sind fortlaufende Instrumente der Qualitätssicherung erforderlich, dazu zählen vor allem Fachberatung, Supervision und kontinuierliche Qualifizierungen.

Die kooperierenden Akteure in der Klinik sind für die erfolgreiche Umsetzung des Lotsendienstes zentral. So wird eine erste Wahrnehmung der Unterstützungsbedarfe von Familien in der Regel von den in der Klinik tätigen Fachkräften (insbesondere Hebammen, pflegerische, pädagogische und therapeutische Fachkräfte sowie Ärztinnen und Ärzte im Kreißsaal und auf der Wochenstation, gegebenenfalls. auch auf den gynäkologischen Stationen, in den Perinatalzentren und in der Kinderklinik) vorgenommen. Zum Teil findet dieser Schritt im Rahmen der Anamnese statt, zum Teil wird er in einem separaten Verfahren umgesetzt.

Für das Funktionieren des Lotsendienstes ist es daher elementar, dass das am Umsetzungsprozess beteiligte Klinikpersonal eine niedrigschwellige Schulung in Bezug auf den Lotsendienst erhält. Dazu gehört, dass das Klinikpersonal über Zielsetzung und zentrale Konzeptelemente des Lotsendienstes informiert ist, die Verfahrensweisen, unterstützenden Instrumente sowie deren Nutzungsmöglichkeiten kennt und weiß, wie die Zusammenarbeit innerhalb und außerhalb der Klinik vonstattengehen sollte und wer die jeweils zuständigen Ansprechpersonen sind. Zudem muss das Klinikpersonal dafür sensibilisiert werden, Belastungsfaktoren, Ressourcen und Unterstützungsbedarfe der Familien wahrzunehmen. Ein zentrales Ziel der Schulung ist, alle Beteiligten für die Unterstützung und Mitwirkung am Lotsendienst zu gewinnen.

Die qualitativen Daten des ZuFa-Monitorings Geburtsklinik des NZFH liefern Hinweise darauf, dass sich viele Mitarbeitende in Geburtskliniken regelmäßige und wiederkehrende Schulungen der gesamten Belegschaft zu Themen wie der Versorgung von Familien in belastenden Lebenslagen und den Frühen Hilfen allgemein wünschen. Gerade in der Phase, in der ein Lotsendienst neu aufgebaut wird, können durch gezielte Informationsvermittlung Vorbehalte und Sorgen auf Seiten der Mitarbeitenden abgebaut werden.

Versorgung und Behandlung der Frauen und ihrer Kinder in der Geburtsklinik sind arbeitsteilig organisiert. Für einen gelingenden Prozess ist dabei vor allem das Zusammenwirken von Ärzteschaft, pflegerischen, therapeutischen und pädagogischen Fachkräften sowie Hebammen und Sozialdienst bedeutsam. Entsprechend müssen auch der Prozess des systematischen Erkennens von Belastungsfaktoren, Ressourcen und Unterstützungsbedarfen sowie die Überleitung in weiterführende (Frühe) Hilfen kooperativ ausgestaltet werden.

Um ein reibungsloses Funktionieren des Lotsendienstes zu gewährleisten, müssen die Kommunikations- und Informationswege sowohl innerhalb der Klinik als auch mit externen Kooperationspartnerinnen und -partnern wie den Netzwerken und Angeboten Früher Hilfen sowie dem Jugend- und dem Gesundheitsamt klar definiert sein. Insbesondere wenn eine Geburtsklinik mit mehreren Kommunen bzw. Jugend- und Gesundheitsämtern zusammenarbeitet, empfiehlt es sich, dass diese dem Lotsendienst die Ansprechpartnerinnen und -partner und die Wege dorthin nennt und im Konzept beschreibt (vgl. Punkt 2).

In einigen Lotsendiensten wurden Ablaufschemata entwickelt, die beispielsweise in Form eines Flussdiagramms die jeweiligen notwendigen Handlungsschritte und Entscheidungen sowie die hierfür verantwortlichen Personen abbilden. Diese Ablaufschemata haben sich als Orientierungshilfe für die unterschiedlichen beteiligten Akteure bewährt.

Die Lotsendienste sind – analog zum Verständnis des NZFH von Frühen Hilfen – klar präventiv ausgerichtet und adressieren insbesondere (werdende) Eltern in psychosozial belastenden Lebenssituationen. Ziel der Lotsendienste ist es, Unterstützungsbedarfe von Familien frühzeitig zu erkennen, ihnen weiterführende Unterstützungsangebote aufzuzeigen und sie bei Bedarf aktiv dorthin zu vermitteln. Auf diese Weise soll ein Beitrag geleistet werden, potenziellen Gesundheits- und Entwicklungsrisiken für Kinder entgegenzuwirken und ein gesundes und gelingendes Aufwachsen frühest- und bestmöglich zu befördern. Die Weitervermittlung der Familien ist dabei immer freiwillig und bedarf der Zustimmung der Eltern. Lehnen diese Angebote der Frühen Hilfen ab, muss dies von der Lotsin bzw. dem Lotsen akzeptiert werden.

Ganz andere Handlungsnotwendigkeiten ergeben sich, wenn Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung festgestellt werden. In diesen Fällen ist die Lotsin bzw. der Lotse verpflichtet – grundsätzlich mit Kenntnis der Eltern, im Notfall aber auch ohne deren Einverständnis –, das Jugendamt hinzuzuziehen. Manche Lotsendienste übergeben in diesen Fällen intern an den Kliniksozialdienst, der die weitere Zusammenarbeit mit dem Jugendamt übernimmt.

Das Verfahren bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung muss klar schriftlich geregelt sein, und es müssen insoweit erfahrene Fachkräfte zur Beratung von wahrgenommenen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung sowie die Ansprechpartnerinnen und -partner im Jugendamt oder einem entsprechend beauftragten Träger benannt sein, an die sich die Klinik bzw. die Lotsin oder der Lotse wenden kann (Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft gem. § 4 KKG).

Insofern ist die Tätigkeit im Rahmen des Lotsendienstes klar vom Handeln bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung zu unterscheiden.

Anmerkung: Angehörige der Heilberufe in Kliniken können sich auch an die „Medizinische Kinderschutzhotline“ wenden. Das bundesweite, kostenfreie und 24 Stunden erreichbare telefonische Angebot berät bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch: Tel. 0800 19 210 00, www.kinderschutzhotline.de

Lotsendienste der Frühen Hilfen in Geburtskliniken sollen in erster Linie auf psychosoziale Belastungsfaktoren von Familien aufmerksam werden, um ihnen so früh wie möglich Unterstützungsangebote unterbreiten zu können. Zentral ist hierbei, dass die Unterstützungsangebote möglichst niedrigschwellig und nicht-stigmatisierend sind und ohne Hürden in Anspruch genommen werden können. Dazu gehört auch, dass sich für die Familien keine Kosten ergeben, da dies eine Inanspruchnahme möglicher Angebote erschweren würde.

Lotsendienste aus Geburtskliniken in die Frühen Hilfen erfüllen die drei aufeinander bezogenen familienbezogenen Kernaufgaben wie folgt:

  • Das systematische Erkennen von Belastungsfaktoren, Ressourcen und Unterstützungsbedarfen von (werdenden) Eltern soll über ein qualifiziertes/strukturiertes Verfahren erfolgen – gegebenenfalls mittels eines Instrumentes ("Assessment"). So wird die Aufmerksamkeit für mögliche Anhaltspunkte geschärft, die nahelegen, der Mutter bzw. der Familie ein Gespräch über die Zeit nach der Entlassung aus der Geburtsklinik anzubieten.
  • Das vertiefende Gespräch mit Eltern, die Unterstützungsbedarfe haben, wird in der Regel von der Lotsin bzw. dem Lotsen durchgeführt. Ziel dieses Gespräches ist es, die Unterstützungsbedarfe der Familien zu konkretisieren und mit vorhandenen persönlichen, familiären und sozialen Ressourcen in Abgleich zu bringen. Im Gespräch soll dies der Frau bzw. Familie transparent gemacht und mit den Selbsteinschätzungen der Frau bzw. der (werdenden) Eltern abgeglichen werden. Auf dieser Grundlage wird dann gemeinsam eruiert, welche konkreten weiterführenden Entlastungs- und Unterstützungsmaßnahmen für die Familie geeignet wären. Das Gespräch sollte in einem störungsfreien und vertraulichen Setting geführt werden.
  • Bei Bedarf erfolgt die Überleitung in weiterführende Unterstützungsangebote außerhalb der Klinik. Je nachdem, wie hoch der Unterstützungsbedarf der Eltern ist und welche Ressourcen vorhanden sind, kann diese Überleitung von der Lotsin bzw. dem Lotsen aktiver oder weniger aktiv begleitet werden. Eine Überleitung kann von einer Weitergabe von Informationen und Adressen über die Kontaktaufnahme innerhalb der Klinik sowie mit Institutionen außerhalb bis hin zur Begleitung der Familie zu weiterführenden Unterstützungsangeboten (einschließlich der gemeinsamen Wahrnehmung erster Termine) reichen.

Dabei ist grundlegend, dass für alle drei Kernaufgaben jeweils der Aspekt der Freiwilligkeit für die Familien handlungsleitend ist.

Ein systematisches Assessment mit allen Frauen ist aus zwei Gründen sinnvoll und notwendig: Zum einen wird somit minimiert, Frauen und Familien, die Unterstützung benötigen, zu "übersehen". Zum anderen verhindert ein generelles und nicht selektives Vorgehen Stigmatisierungseffekte und erleichtert damit den Zugang zu weiterführenden Unterstützungsangeboten.

Eine Möglichkeit, zu gewährleisten, dass die Unterstützungsbedarfe mit allen Frauen eingeschätzt werden, besteht darin, bereits im Rahmen von Anamnesegesprächen systematisch Belastungsfaktoren, Ressourcen und Unterstützungsbedarfe von Frauen und ihren Familien zu erheben. Dies hat den Vorteil, dass die Einschätzung Teil der sozial-medizinischen Anamnese ist und damit gut in den Strukturen der Klinik verankert werden kann. Grundsätzlich ist immer zu beachten, dass die Frauen die Angaben freiwillig machen. Wichtig in diesem Kontext ist es, dass Kliniken eine Transparenz über dieses Verfahren gegenüber den Familien herstellen, indem sie darüber informieren, dass Fachkräfte bei der Wahrnehmung von Unterstützungsbedarf während des Klinikaufenthalts die Familien ansprechen und gemeinsam mit ihnen nach Lösungen suchen. Dementsprechend wird eine empathische, wertschätzende und ressourcenorientierte Haltung beim Klinikpersonal sowie den Lotsinnen und Lotsen vorausgesetzt.

Die qualitativen Daten des ZuFa-Monitorings Geburtsklinik weisen darauf hin, dass die Einschätzung

a) im Idealfall vor dem stationären Aufenthalt und

b) systematisch in Form einer standardisierten Routine durchgeführt werden sollte.

Auch eine Verfahrensanweisung, die die Weitergabe der Informationen unter Berücksichtigung des Datenschutzes innerhalb der Station beschreibt, sowie die Bereitstellung von zeitlichen und personellen Ressourcen für die Einschätzung sind unerlässlich.

Um insbesondere Familien zu erreichen, denen es schwerfällt, sich selber Unterstützung zu organisieren oder auch die eigene Belastungslage zu artikulieren, sind Verfahren zur systematischen Belastungseinschätzung ratsam (vgl. Punkt 11). Hier ist allerdings besondere Sensibilität gefragt, damit es nicht zu unerwünschten Diskriminierungseffekten kommt, die das Prinzip der Freiwilligkeit in den Frühen Hilfen konterkarieren.

Die Verwendung eines Instruments zum Assessment wurde von den Expertinnen und Experten, die sich bei der Erarbeitung dieser Qualitätskriterien eingebracht haben, intensiv und kritisch diskutiert.


Pro

Der Einsatz eines (möglichst) validierten Instruments zur Einschätzung des Unterstützungsbedarfs, das an den Grundprinzipien Freiwilligkeit, Transparenz, Stigmatisierungsfreiheit und Partizipation orientiert ist, kann dabei unterstützen:

  • mögliche familiäre Belastungslagen,
  • Belastungen von Kindern mit einer erhöhten Vulnerabilität (z. B. Frühgeburt oder erhebliche perinatale Komplikationen) sowie
  • vorhandene Schutzfaktoren regelhaft zu erfassen und systematisch zu dokumentieren.

Mit Hilfe eines solchen Instruments können die Beobachtungen unterschiedlicher Professionen fortlaufend an einem Ort zusammengeführt werden. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Unterstützungsbedarfe von Familien wahrgenommen werden und nicht im Klinikalltag untergehen.

Wie auch Geburtskliniken im Rahmen des ZuFa-Monitorings bestätigten, hat es sich als hilfreich erwiesen, die Erhebung von Unterstützungsbedarfen mittels eines Instruments bereits in die sozialmedizinische Anamnese der Klinik bei der Anmeldung oder der Aufnahme zu integrieren. Zentral hierbei ist, dass alle relevanten Professionen und Akteure im Umgang mit dem Erhebungsinstrument geschult werden. Dies erhöht gleichzeitig deren Sensibilität in der Wahrnehmung von elterlichen Unterstützungsbedarfen sowie die Akzeptanz für den Einsatz des Instruments bei den Mitarbeitenden. Das Instrument soll so gestaltet und eingesetzt werden, dass die Eltern auf Augenhöhe eingebunden werden, sie am Einschätzungsprozess beteiligt werden und in diesem keine Stigmatisierung erleben

Contra

Die Verwendung eines Instruments zum Assessment wird allerdings auch kritisch gesehen. Es besteht die Sorge, dass der niedrigschwellige Zugang, der für die Frühen Hilfen essenziell ist, verloren geht, weil Eltern sich kontrolliert und bewertet fühlen könnten und in ihrem Vertrauen enttäuscht werden. Zwar werde in Kliniken, die Instrumente zum Assessment nutzen, darauf hingewiesen, dass der Einsatz der Zustimmung der Eltern bedarf. Es sei jedoch fraglich, ob Eltern eine Wahl haben, (nicht) teilzunehmen, und wie den Eltern begegnet wird, die den Einsatz eines Instruments ablehnen.

Des Weiteren könne der Einsatz von Assessmentinstrumenten mit Punktwerten eine Scheinsicherheit vermitteln. Hinweise auf mögliche Belastungen ergeben sich häufig auch in "beiläufigen" Gesprächen zwischen den Krankenhausmitarbeitenden und Eltern. Zudem kann die Thematisierung von Belastungen im Rahmen der Anamnese schambehaftet sein.

Darüber hinaus fokussieren die meisten Assessmentinstrumente häufig zu stark auf Belastungsfaktoren und berücksichtigen noch zu wenig Ressourcen und Schutzfaktoren. Leitfäden, die zur Orientierung für das vertiefende Gespräch eingesetzt werden, berücksichtigen das Zusammenspiel von Ressourcen und Resilienz einerseits und Belastungsfaktoren andererseits meist ausgewogener.


Ein Viertel aller Geburtskliniken (24,6 Prozent), die im Kontext des ZuFa-Monitorings Geburtsklinik befragt wurden, setzen einen standardisierten Einschätzungsbogen zur Erfassung von psychosozialen Belastungen ein. Dazu gehören zum Beispiel der "Ludwigshafener peripartale Erhebungsbogen (LupE)", der "Anhaltsbogen Wilhelm" (Lotsendienst "Babylotse"), der "Anhaltsbogen für ein vertiefendes Gespräch" (Lotsendienst "Guter Start ins Kinderleben"), der "Untersuchungsbogen" (KinderZUKUNFT NRW«) und verschiedene Bögen, die im Rahmen von Lotsendiensten mit regionaler Reichweite entstanden sind.

Demgegenüber gibt es eine Vielzahl von Kliniken, die sich entschieden haben, keine solchen Instrumente zum Assessment einzusetzen, sondern stattdessen alle Frauen auf der Geburtsstation anzusprechen und in diesem Rahmen – gemeinsam mit den Frauen bzw. Familien – zu eruieren, ob ein Unterstützungs- und Hilfebedarf bestehen könnte. Je nach Größe der Geburtsklinik bedeutet dies einen mehr oder weniger intensiven Personaleinsatz von Lotsinnen und Lotsen.

Folgende Aspekte sollten, abhängig von der Form, auf jeden Fall beachtet werden:

  • Ein Instrument sollte kein persönliches Gespräch ersetzen und sollte von den Fachkräften im gemeinsamen Gespräch mit der Familie angewendet werden. Auf diese Weise soll vermieden werden, dass Zuordnungen zu Belastungsfaktoren erst nach dem Gespräch mit den Eltern vorgenommen und dann − ohne Wissen und Zustimmung der Eltern − an andere Fachkräfte weitergegeben werden. Ein solches Vorgehen würde das Vertrauensverhältnis zu den Eltern und eine Inanspruchnahme von weiteren Unterstützungsangeboten gefährden.
  • Dementsprechend müssen Einsatz und Zweck von Instrumenten den Eltern gegenüber transparent sein, und die Anwendung kann nur nach deren Zustimmung erfolgen.
  • Um Eltern gerecht zu werden, muss bei jeder Form des Assessments eine einseitige Fokussierung auf Belastungsfaktoren vermieden werden. Nur durch die zusätzliche Berücksichtigung der familiären Ressourcen entsteht ein umfängliches Bild, das der Familie gerecht wird.
  • Das Angebot, das den Eltern unterbreitet wird, ist freiwillig, und die Familie entscheidet über die Inanspruchnahme.

Während ihres Aufenthaltes in der Geburtsklinik haben die Mütter und auch die Väter Kontakt zu unterschiedlichen Professionen: Hebammen, Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte, gegebenenfalls (sozial-)pädagogische Fachkräfte, Psychologinnen und Psychologen, Verwaltungsmitarbeitende etc. Diese Professionen treffen die Frauen zum Teil zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlichen Situationen an und machen somit unterschiedliche Erfahrungen und Beobachtungen. Wichtig ist zum einen, dass all diese Professionen für die möglichen Unterstützungsbedarfe der Frauen und ihrer Familien sensibilisiert sind und wissen, wie und wo sie Beobachtungen mit-teilen können. Zum anderen ist entscheidend, dass es einen Ort gibt, an dem die unterschiedlichen Perspektiven zusammengeführt werden können. Das kann zum Beispiel über ein Anamnese-/Assessment-Dokument geschehen, in das alle Akteure, die mit den Frauen zusammenarbeiten, ihre Beobachtungen eintragen können. Dieses Dokument ist dann ein Bestandteil der Standarddokumentation auf den Geburtsstationen, auf die alle Professionen Zugriff haben. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund bedeutsam, dass die Verweildauer der Frauen in den Geburtskliniken oftmals sehr kurz ist und daher nur ein kleines Zeitfenster zur Verfügung steht, um Unterstützungsbedarfe zu erkennen und einzuschätzen, Informationen zusammenzuführen sowie weiterführende Hilfen zu initiieren. Dies wird durch die Daten des ZuFa-Monitorings Geburtsklinik gestützt: 56 Prozent der Kliniken stimmen der Aussage zu, dass die kurzen Verweildauern die Wahrnehmung von familiären Belastungslagen und damit die Vermittlung von Familien in Angebote Früher Hilfen erschweren. Des Weiteren berichten die befragten Mitarbeitenden, dass vor allem Zeit- und Personalmangel den Austausch innerhalb und außerhalb der Klinik sehr erschweren. Hier kann ein Lotsendienst eine substanzielle Entlastung sein .

Es sollte ein Monitoring zum Lotsendienst etabliert werden, um in regelmäßigen Abständen die Arbeit auszuwerten. Darüber sollten sowohl anonymisierte Daten zu den Eltern wie auch zu den klinikinternen und -externen Kooperationspartnern erhoben werden. Auf Grundlage der (aggregierten) Daten können die Mitarbeitenden und Verantwortlichen wichtige Erkenntnisse für die Weiterentwicklung des Dienstes erhalten: zum Beispiel Belastungslagen von Familien, Kooperationspartner, Erreichbarkeit von Müttern und Vätern, geäußerte Bedarfe und Wünsche von Eltern.

Darüber hinaus ist das Vorhalten entsprechender Daten auch essenziell für eine Berichterstattung in den kommunalen Gremien und Ausschüssen (vor allem Jugendhilfe- und Gesundheitsausschuss), das Berichtswesen der Klinik und bei Anfragen aus dem politischen Raum zur Umsetzung des Lotsendienstes.

Publikationen

Zentrale Qualitätskriterien für Lotsendienste der Frühen Hilfen in Geburtskliniken. Fachliche Anforderungen für die weitere Profilierung

Welche Mindestkriterien sollten erfüllt sein, um von einem Lotsendienst Frühe Hilfen in Geburtskliniken sprechen zu können? Das vorliegende Eckpunktepapier enthält dazu 14 zentrale Qualitätskriterien als Ergebnis eines umfassenden Arbeitsprozesses. Grundlage stellt eine Recherche des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ism) im Auftrag des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) dar zu derzeit in Deutschland implementierten Lotsendiensten.
Das Konsenspapiers soll Impuls und Grundlage für die Einrichtung, Weiterentwicklung und Profilierung von Lotsendiensten der Frühen Hilfen sein.

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