Anforderungen an Hilfen für den Einsatz in Kinderschutzfällen – Konzepte und Hilfeplanung im Kinderschutz
Am 29. und 30. November 2021 fand das vierte "Fachgespräch Kinderschutz" als Online-Veranstaltung statt. Rund 70 Expertinnen und Experten diskutierten an zwei Tagen über die Anforderungen an ambulante Hilfen für den Einsatz in Gefährdungsfällen.
Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) hat dazu Vertreterinnen und Vertreter aus Jugendämtern, von freien Trägern, Verbänden und Fachgesellschaften, Repräsentantinnen und Repräsentanten der Verwaltung auf Landes- und Bundesebene sowie Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft eingeladen.
Ziel des diesjährigen Fachgesprächs war es, die Anforderungen an die Konzeption von ambulanten Hilfen, die zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung eingesetzt werden, zu diskutieren und Qualitätsentwicklungsbedarfe herauszuarbeiten. Auf der Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstandes wurden die Stärken und Schwächen von ambulanten Hilfen zum Einsatz bei Vernachlässigung / nach Misshandlung diskutiert und Empfehlungen für die Weiterentwicklung der Hilfeplanung sowie der sozialen Infrastruktur im Kinderschutz entwickelt.
Hintergrund
Das Paradigma "Hilfe vor Eingriff" unterstreicht, dass Jugendämter dazu angehalten sind, nur so viel wie nötig und zugleich so wenig wie möglich in die Autonomie von Familien einzugreifen. Sofern es die Situation für das Kind zulässt, die Eltern bereit und in der Lage sind, an der Abwendung der Gefährdung mitzuwirken, und die Hilfe Aussicht auf Erfolg hat, müssen daher ambulante Hilfen einer stationären Fremdunterbringung des Kindes vorgezogen werden. Ambulante Hilfen zur Erziehung sind somit eine wichtige Säule im Kinderschutz.
Das zeigen auch die Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik: So wurden in 2019 nach Gefährdungseinschätzungen mit dem Ergebnis einer latenten oder akuten Kindeswohlgefährdung in fast 15.000 Fällen eine ambulante oder teilstationäre Hilfe zur Erziehung als neue Hilfe bewilligt.
Ergebnisse aus der Forschung
Darüber hinaus deutete eine Befragung des DJI in Kooperation mit dem NZFH von über 1400 ASD-Fachkräften in Baden-Württemberg auf Lücken in der sozialen Infrastruktur im Kinderschutz hin. In der 2018 und 2019 durchgeführten Untersuchung gaben nur knapp ein Viertel der Fachkräfte an, dass sie auf spezifisch für die Arbeit im Kinderschutz qualifizierte Hilfen zurückgreifen können. Des Weiteren gaben nur gut ein Viertel der Fachkräfte an, dass die durch Vernachlässigung und Misshandlung betroffenen Kinder und Jugendlichen eigens an sie gerichtete Hilfen erhalten.
Beide Angaben deuten auf erheblichen Entwicklungsbedarf im Bereich der Hilfen im Kinderschutz hin und machen einen Mangel an gefährdungsspezifischen und kindorientierten Hilfen deutlich. Dass es sich bei diesen Ergebnissen aus Baden-Württemberg nicht um ein bundeslandspezifisches Problem handelt, darauf deuten die Erkenntnisse aus Fallanalysen hin, die im Rahmen des Projektes "Qualitätsentwicklung im Kinderschutz" des NZFH durchgeführt wurden. So ergab die Reflexion verschiedener Fallverläufe auch in anderen Bundesländern, dass die eingesetzten ambulanten Hilfen nicht geeignet, ausreichend und/oder erfolgreich waren, um die Gefährdung abzuwenden. Ebenso konnte an einigen Fällen gezeigt werden, dass den Kindern keine spezifischen Hilfen bereitgestellt wurden (werden konnten), damit sie die Situation meistern und eventuell entstandene Schädigungen bewältigen konnten.
Ein Thema für die Qualitätsentwicklung im Kinderschutz
Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse erscheint es notwendig, im Rahmen der Qualitätsentwicklungsdebatte im Kinderschutz auch die Hilfeplanung sowie die Hilfekonzepte kritisch in den Blick zu nehmen. Wesentliche Aspekte in diesem Zusammenhang sind:
- die Verfügbarkeit von spezifischen Konzepten für verschiedene Problemlagen (zum Beispiel die Arbeit mit psychisch oder suchtkranken Eltern, bei Vernachlässigung, häusliche Gewalt)
- die Qualität der Entscheidung über die geeignete und notwendige Hilfe im Rahmen der sozialpädagogischen Diagnosen und die Hilfeplanung
- die Eignung der ambulanten Hilfekonzepte zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung unter Berücksichtigung der bisher bekannten Wirkfaktoren
- die Qualifikation und die Kompetenzen der Fachkräfte nicht zuletzt hinsichtlich der Arbeit mit unfreiwilligen Klientinnen und Klienten im Kinderschutz.
Begrüßung
Das Fachgespräch wurde von Almut Hornschild, Leiterin des Referats Kinderschutz, Prävention sexueller Gewalt, Stiftung Frühe Hilfen im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Mechthild Paul, Leiterin des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) und Dr. Christina Boll, Leiterin der Abteilung Familie und Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI), eröffnet.
Hinweise aus Fallanalysen zum Weiterentwicklungsbedarf von Hilfen im Kinderschutz
Christine Gerber, Leiterin des Projekts Qualitätsentwicklung im Kinderschutz im NZFH, DJI, stellte zum Einstieg aktuelle Erkenntnisse aus Fallanalysen vor. Einen Schwerpunkt ihres Vortrags bildete der Einfluss der Qualität der Diagnostik und Entscheidung über die geeignete und notwendige Hilfe auf den Hilfeerfolg sowie die Bedeutung des Überganges zwischen öffentlichem und freiem Träger für die Hilfeerbringung. Darüber hinaus stellte sie Faktoren vor, die sich nachteilig auf den Erfolg von Hilfen auswirken und forderte, dass neben Prozess- und Strukturqualität in Zukunft auch die Ergebnisqualität stärker in den Blick genommen werden sollte.
Wirksamkeit und Wirkfaktoren von ambulanten Hilfen im Kinderschutz
Im daran anschließenden Impulsreferat mit dem Titel "Wann können Hilfen im Kinderschutz ihre Wirksamkeitspotenziale entfalten?" von Dr. Stefanie Albus, Dipl. Päd., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, wurde thematisiert, woran Wirksamkeit festgemacht wird und wie Unterstützungsangebote wirksam gestaltet werden können. Auf dieser Grundlage arbeitete sie Aspekte der Wirksamkeitsförderung im Rahmen der Dimensionen Struktur- und Prozessqualität sowie der Professionalität heraus. Abschließend ging sie auch auf Faktoren ein, die sich hinderlich auf die Wirksamkeit von Hilfen auswirken können.
In Anschluss daran befasste sich Herr Prof. Dr. Michael Macsenaere, Leiter des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) in Mainz, in seinem Vortrag mit der Frage: "Was wissen wir in Deutschland über die Wirksamkeit und Wirkfaktoren von ambulanten Hilfen in Kinderschutzfällen?". Nach einem Überblick über die aktuelle Studienlage in Deutschland ging er auf Wirkfaktoren ambulanter Hilfen sowie die Indikationsgüte im Sinne der Entscheidung über die "richtige Hilfe" ein. Schließlich führte er aus, welche Bedeutung die Beteiligung von Eltern, Kindern und Jugendlichen für den Erfolg von Hilfe hat.
In dem Impulsvortrag von Prof. Jane Barlow, Professorin für evidenzbasierte Intervention und Politikevaluierung in der Abteilung für Sozialpolitik und Intervention an der Universität Oxford, wurde die Frage der Wirksamkeit der Maßnahmen im Kinderschutz aus internationaler Perspektive beleuchtet. Prof. Barlow stellte unter anderem programmorientierte Interventionen, die in England zum Tragen kommen, vor und arbeitete in ihrem Vortrag zentrale Schlüsselmerkmale von wirksamen Interventionen heraus.
Kinder und Jugendliche als Hilfeadressatinnen und -adressaten im Kinderschutz stärker in den Blick nehmen
Im letzten Vortrag befasste sich Prof. Dr. Heinz Kindler, Leiter der Fachgruppe Familienhilfe und Kinderschutz am Deutschen Jugendinstitut e.V. und Honorarprofessor an der Fakultät Soziale Arbeit an der Hochschule Landshut, mit Kindern als Hilfeadressatinnen und -adressaten und der Notwendigkeit von spezifischen Hilfen für Kinder nach erlebter Misshandlung und/oder Vernachlässigung. Auf der Basis empirischer Befunde zeigte er Verbesserungsbedarfe und mögliche Lösungswege hinsichtlich stärker kindbezogener Hilfen auf.
Zentrale Themen und Ergebnisse für die Weiterentwicklung im Kinderschutz
Im Laufe der beiden Tage wurde auf der Grundlage der Impulsreferate sowohl in mehreren Kleingruppen als auch im Plenum diskutiert, welcher Weiterentwicklungsbedarf für die Hilfen im Kinderschutz in Deutschland gesehen wird.
Im Ergebnis stellten sich sechs Schwerpunkte für die Weiterentwicklung im Kinderschutz heraus:
Diagnostik und Entscheidung über die geeignete und notwendige Hilfe
Anforderungen an die Hilfe, Ausgestaltung der Hilfeprozesse und Maßstäbe für den Erfolg
Qualifikation und Unterstützung der Fachkräfte für die Arbeit mit Familien in Gefährdungsfällen
Soziale Infrastruktur – Bereitstellung von Hilfen im Kinderschutz
Fazit des Fachgespräches: Bausteine zur Weiterentwicklung der (ambulanten) Hilfen im Kinderschutz
Vor dem Hintergrund der Diskussion lassen sich vier Ansätze zur Weiterentwicklung der Hilfen im Kinderschutz zusammenfassen:
1. (Weiter-) Entwicklung von Hilfekonzepten für Eltern und Kinder
Entwicklung von Modellprojekten und deren Evaluation: Aufgrund des Mangels an geeigneten Hilfen sollten Modellprojekte für spezifische Gefährdungslagen und Hilfen oder Behandlungen für Kinder und Jugendlichen entwickelt werden und deren Wirksamkeit evaluiert werden. Neben innovativen und engagierten Trägern und Verbänden, ist die Bereitstellung von entsprechenden Mitteln durch Bund, Länder und Kommunen hierfür die Voraussetzung.
Ausbau der sozialen Infrastruktur auf kommunaler Ebene: Aufbauend auf einer lokalen Bestandsaufnahme kann, zum Beispiel in der ARGE §78 SGB VIII, der Bedarf an spezifischen Hilfen zum Einsatz in Fällen von Vernachlässigung und nach Misshandlung festgestellt und entsprechender Ausbau veranlasst werden.
Austausch über Modellprojekte und Evaluationen: Zur Unterstützung der Weiterentwicklung spezifischer Hilfen im Kinderschutz kann ein länderübergreifender, systematischer Austausch über Modellprojekte sowie die Bereitstellung von Erkenntnissen aus deren Evaluation einen wichtigen Beitrag leisten.
2. Qualifizierungsoffensive, die sich sowohl an Fachkräfte der öffentlichen als auch der freien Träger richtet
Landesjugendämter und Fachverbände sind aufgefordert spezifische Fortbildungskonzepte zu entwickeln und anzubieten. Zentrale Themen für die Fortbildung sind:
- Sozialpädagogische Diagnose in Gefährdungsfällen (als zentrale Grundlage für die Entscheidung über die Art und Ausgestaltung der Hilfe)
- Wissen über Wirksamkeit (welche Hilfe hat in welchen Fällen Aussicht auf Erfolg?) und Wirkfaktoren von Hilfen (zum Beispiel Umfang und Dosierung von Hilfen)
- Handwerkszeug und Skills für problemspezifische Interventionen im Kinderschutz; Arbeit an Veränderung mit unfreiwilligen Klientinnen und Klienten; Partizipation und Beteiligung von Eltern
- Einschätzung der Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit von Eltern (um frühzeitig zu erkennen, wenn Hilfen keine Aussicht auf Erfolg haben und eine Fremdunterbringung geeignet und v.a. notwendig ist, um weiteren Schaden vom Kind abzuwenden)
- Erarbeitung und Überprüfung von Veränderungszielen im Rahmen der Hilfeplanung mit den Eltern / Kindern / Jugendlichen (sowohl zur Orientierung für die Hilfe als auch zur Überprüfung des Erfolgs von Hilfe)
- Beteiligung von Kindern / Jugendlichen an der Gefährdungseinschätzung, Partizipation von Kindern an der Hilfeplanung, Gespräche mit Kindern im Kinderschutz
Wünschenswert wäre, dass die Inhalte und Effekte von Fortbildungen einer kritischen Überprüfung und Evaluation unterzogen werden, um sicherzustellen, dass sie fachlichen Ansprüchen genügen und den aktuellen Stand des Wissens berücksichtigen. Hierzu könnten Bund und Länder entsprechende finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen.
3. Forschungsoffensive
Wie erfolgreich ist unser Kinderschutzsystem? Grundsätzlich erscheint es notwendig im Rahmen von Längsschnittstudien zur Entwicklung von Kindern nach Interventionen im Kinderschutz generelle Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie erfolgreich unser Kinderschutzsystem derzeit ist.
Evaluation von Hilfen: Fachkräfte müssen auf Wissen über die Wirksamkeit und Wirkfaktoren von Hilfen zurückgreifen können, um "die richtigen" Entscheidungen über Art, Umfang und Ausgestaltung der Hilfen treffen zu können. Ebenso brauchen freie Träger und Verbände Wissen, wie Hilfen in Fällen von Vernachlässigung und nach Misshandlung ausgestaltet sein müssen, damit sie Aussicht auf Erfolg haben. Dieses Wissen bereitzustellen, ist Aufgabe von Wissenschaft und Forschung.
Bereitstellung von Wissen: Wissenschaft und Forschung stehen in der Verantwortung, das generierte Wissen in praxistauglicher und verständlicher Weise aufzubereiten. Folgende Wissensbestände sollten hier besonders im Fokus stehen:
- Schädigungspotentiale andauernder Vernachlässigung
- zur Einschätzung der notwendigen Hilfe;
- zur Sensibilisierung bzgl. der Folgen zu spät angepasster Hilfekonzepte und
- zur Argumentation gegenüber dem Familiengericht
- Wirkfaktoren sozialpädagogischer Interventionen
- Anforderungen an ‚Hilfesets‘ (Kombination verschiedenen Hilfen, zum Beispiel Stärkung erzieherischer Kompetenzen und Behandlung von Suchterkrankung)
4. Qualitätsdialoge über Hilfen im Kinderschutz
Qualitätsdialoge über Hilfen im Kinderschutz auf folgenden Ebenen könnten ein wertvoller Beitrag für die Qualitätsentwicklung der Hilfen im Kinderschutz sein:
- Auf institutioneller Ebene (innerhalb der Träger, der Jugendämter): Zur Reflexion der eigenen Arbeit und institutioneller Entwicklungsbedarf
- Auf kommunaler Ebene (zwischen öffentlichen und freien Trägern): Zur Weiterentwicklung der lokalen Infrastruktur der Hilfen im Kinderschutz
- Mit zentralen Netzwerkpartnerinnen, wie Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gesundheitshilfe, Schule, Kita: Zur (Weiter-) Entwicklung integrierter, multiprofessioneller Hilfesets im Kinderschutz
- Austausch auf Landes- und Bundesebene: Zur Generierung von Synergieeffekten und um mit- bzw. voneinander zu lernen.