Kooperation im Kinderschutz – Schnittstelle oder Schwachstelle?
45 Vertreterinnen und Vertreter aus Länderministerien, Amtsgerichten, (Landes-) Jugendämtern, Universitäten, Gesundheitsämtern und Kinderkliniken nahmen am 15. und 16. März 2018 am Fachgespräch des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) zum Thema "Kooperation im Kinderschutz – Schnittstelle oder Schwachstelle?" in München teil.
Die Veranstaltung bildete den Auftakt für die zukünftig jährlich vorgesehenen "Fachgespräche zum Kinderschutz" im Rahmen des Projektes "Lernen aus problematischen Kinderschutzverläufen".
Hintergrund
Kooperation im Kinderschutz hat sich zu einem zentralen Thema in der Qualitätsentwicklung im Kinderschutz entwickelt. Insbesondere sollen vernetztes Handeln und professionsübergreifende Schutzkonzepte in den konkreten Fällen den Schutz und die Hilfe für das Kind und seine Familie verbessern. Zugleich zeigt die Analyse von problematisch verlaufenen Kinderschutzfällen im Rahmen eines Projektes der Fachgruppe Frühe Hilfen im Deutschen Jugendinstitut in Kooperation mit dem Nationalen Zentrum Frühe Hilfen, dass Kooperation im Kinderschutz nicht ohne Weiteres gelingt. Vielmehr ist sie auch mit einigen Risiken und Stolpersteinen verbunden, die es lohnt interprofessionell zu diskutieren.
Bis vor ca. zehn Jahren waren Jugendamt und Familiengericht die zentralen – bisweilen alleinigen – Akteure im Kinderschutz. Seither hat sich viel verändert. Nicht zuletzt initiiert durch einige Gesetzesänderungen wird Kinderschutz heute als professionsübergreifende Aufgabe verstanden. In den Kommunen wurden Netzwerke Kinderschutz gegründet, in denen sich viele der Einrichtungen und Dienste versammeln, die mit Eltern und Kindern in Kontakt stehen. Die einzelnen Akteure sollen dadurch nicht nur vernetzt, sondern auch qualifiziert werden, um Kinder vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Schulen, Kliniken, Kinderärztinnen und -ärzte aber auch Suchtberatungsstellen und Frauenhäuser setzen sich sowohl intern als auch an ihren Schnittstellen mit anderen Akteuren mit dem Thema auseinander und entwickeln Konzepte und Standards, um im Falle des Verdachtes einer Kindeswohlgefährdung bestmöglich reagieren zu können.
Impulsreferate
Den Einstieg bildeten zwei Impulsreferate. Zunächst befasste sich Dr. Heinz Kindler (DJI) in seinem Vortrag mit der Bedeutung von Kooperation im Kinderschutz im internationalen Vergleich. Anschließend stellte Christine Gerber (NZFH, DJI) Risiken und Stolpersteine in der interdisziplinären Kooperation vor, die im Rahmen eines Projektes der Fachgruppe Frühe Hilfen im Deutschen Jugendinstitut in Kooperation mit dem Nationalen Zentrum Frühe Hilfen herausgearbeitet worden sind.
Dr. Heinz Kindler, DJI:
Im Anschluss daran stellte Gudula Kaufhold (TU Dortmund) Daten aus der bundesweiten Kinder- und Jugendhilfestatistik zu Gefährdungseinschätzungen vor. Susanna Lillig (NZFH, DJI) diskutierte in ihrem Beitrag Schwierigkeiten bei der Differenzierung der Begriffe Belastungen, Risiko und Gefährdung.
Susanna Lillig, NZFH, DJI:
Den Abschluss der Impulsreferate des ersten Tages bildeten drei Beiträge, die sich mit der unterschiedlichen Verwendung des Begriffes "Kindeswohlgefährdung" in den jeweiligen Professionen und Institutionen befassten sowie die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten diskutierten.
Frauke Schwier, Universitätskinderklinik Bonn, DGKiM, S3-Leitlinie:
Sabine Heinke, Amtsgericht Bremen:
Anselm Brößkamp, Leiter Jugendamt Plön:
Die Bedeutung unterschiedlicher Begriffsdefinitionen für die Arbeit des Jugendamtes im Kinderschutz
Diskussion im Worldcafé
Im Anschluss an diese Impulsreferate diskutierten die Teilnehmenden die Frage, ob und in welcher Form es ein Ziel für die Qualitätsentwicklung im Kinderschutz sein könnte, die Gefährdungseinschätzung zukünftig als interprofessionelle Aufgabe zu verstehen. Das könnte bedeuten, dass in die Erarbeitung einer Gefährdungseinschätzung medizinische, psychosoziale und pädagogische Perspektiven einbezogen werden.
Im Mittelpunkt der Diskussion standen folgende Aspekte:
- Was wären die Vor- und Nachteile, wenn die interdisziplinäre Einschätzung des Gefährdungsrisikos im Hilfesystem ein Qualitätsstandard wäre?
- Welche Bedeutung hätte die interdisziplinäre Einschätzung des Gefährdungsrisikos aus der Sicht von Eltern, Kinder und Jugendlichen?
- Welche Konsequenzen hätte die Forderung einer interprofessionellen Einschätzung des Gefährdungsrisikos für die unterschiedlichen Professionen und die Kooperation?
Die Ergebnisse der Diskussion des Worldcafés wurden zum Einstieg in den zweiten Tag von Dr. Thomas Meysen (SOCLES) in ihrer Bedeutung für den Datenschutz gewürdigt und kommentiert.
Dr. Thomas Meysen, SOCLES:
Praxisprojekte im Kinderschutz
Anschließend wurden verschiedene Praxisprojekte im Kinderschutz vorgestellt, in denen die Zusammenarbeit unterschiedlicher Professionen konzeptionell verankert ist. Die Präsentationen vermittelten wichtige Eindrücke, wie die Herausforderungen interprofessioneller Zusammenarbeit insbesondere beim Schutz von Kindern und Jugendlichen in der Praxis gemeistert werden konnten und welche Schwierigkeiten sich dabei stellten. Schwerpunkte der Präsentationen waren neben einer kurzen Beschreibung des Konzeptes v.a.
- die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Projektes sowie Faktoren, die sich hilfreich oder hinderlich für die Gestaltung eines interprofessionellen Konzeptes erwiesen haben und
- Herausforderungen in der Zusammenarbeit, die sich als besonders schwierig erwiesen haben.
Dr. Jürgen Schmid, Amtsgericht München:
Nadine Neudörfer und Dr. Andreas Oberle, Olgahospital Stuttgart:
Birgit Gorgas, Referat für Gesundheit und Umwelt, München:
Ramona Chlebig, Gesundheitsamt Düsseldorf, und Sabine Borgstädt, Jugendamt Düsseldorf:
Zusammenfassung und Fazit
Der Schwerpunkt der Bemühungen, Kooperation im Kinderschutz zu befördern, liegt derzeit auf der Bildung von Netzwerkstrukturen. Nicht zuletzt aufgrund der Einführung von § 3 KKG (Gesetz zur Kooperation und Kommunikation im Kinderschutz) haben aktuell ein Großteil aller Kommunen Netzwerke eingerichtet, in denen sie die verschiedenen am Kinderschutz beteiligten Akteure zusammenbringen.
Im Gegensatz zu dieser fallunabhängigen, institutionellen Vernetzung gibt es jedoch nur vereinzelte Projekte, die auf eine multiprofessionelle Bearbeitung von Fällen – z.B. durch multiprofessionelle Teams - setzen. In diesem Punkt unterscheiden sich die Strategien zur Verbesserung des interprofessionellen Kinderschutzes von denen anderer Länder, wie beispielsweise England oder den Niederlanden. Dort liegt der Fokus vor allem auf der multiprofessionellen Bearbeitung von Fällen. Hierfür werden sowohl verbindliche Vorgaben zur Fallbearbeitung gemacht als auch Teams oder ganze Organisationseinheiten oder Einrichtungen gebildet. Befunde zu den Effekten multiprofessioneller Kooperation in Kinderschutzfällen in diesen Ländern, die Heinz Kindler in seinem Impulsvortrag vorgestellt hat, sowie die Analyse von problematischen Fallverläufen in Deutschland, die Frau Gerber in ihrem Impulsvortrag skizziert hat, weisen zugleich darauf hin, dass mehr Kooperation im Einzelfall nicht zwangsläufig auch zu mehr Qualität im Kinderschutz führt. Insofern müsste eine Stärkung der Zusammenarbeit auf der Fallebene mit der Diskussion förderlicher Rahmenbedingungen, geeigneter Abläufe und gemeinsam geteilten Wissens im Kinderschutz einhergehen, damit sie den gewünschten qualitätssteigernden Effekt entfalten kann.
Weiterhin wurde diskutiert, inwieweit es auch in Deutschland ein erstrebenswertes Ziel im Kinderschutz sein könnte, bei der Einschätzung des Gefährdungsrisikos die Beteiligung verschiedener Professionen vorzusehen. Im Laufe dieser Diskussion wurden hierzu folgende Hürden und Bedenken diskutiert:
- Realisierbarkeit: aktuell fehlen sowohl die strukturellen Voraussetzungen als auch die personelle und finanzielle Ausstattung, damit eine institutionenübergreifende, multiprofessionelle Einschätzung des Gefährdungsrisikos qualifiziert realisiert werden könnte.
- Auswirkungen für Familien: die Einschätzung des Gefährdungsrisikos unter Einbezug aller Institutionen und Fachkräfte, die mit der Familie in Kontakt stehen, würde ein „Mehr“ an Informationsaustausch zwischen Fachkräften erfordern. Unklar ist, wie sich dies auf die Offenheit und Bereitschaft der Eltern zur Zusammenarbeit mit diesen Fachkräften auswirken würde.
- Unklare Verfahrens- und Erfolgskriterien: Unklar ist, wie die multiprofessionelle Kooperation auf der Einzelfallebene konkret gestaltet werden muss, damit sie auch tatsächlich zu einer Verbesserung des Kinderschutzes führt und Risiken und Stolpersteine ausreichend Berücksichtigung finden.
Trotz dieser diskutierten Hürden war das Fazit der Diskussion eher positiv. Sowohl die Einschätzung der konkreten Gefahren für ein Kind als auch die Gestaltung eines individuellen Hilfe- und Schutzkonzeptes für Kind und Familie könnten von einer guten Zusammenarbeit der fallbeteiligten Akteure profitieren. Die Qualität der Einschätzung sowie die Konzeption von Hilfe könnten durch eine gemeinsame Bewertung der Situation verbessert werden. Spezifische Informationen und Wahrnehmungen zu Kind und Eltern, sind in der aktuellen Kinderschutzarbeit oftmals wie Puzzleteile auf einzelne Fallakteure verteilt. Wenn es gelingt, diese „Einzelteile“ zusammenzutragen und sich darüber auszutauschen, kann ein vollständigeres Bild von Kind und Familie entstehen, das es Fachkräften erleichtert, geeignete Hilfen und notwendige Kontrollen mit der Familie zu vereinbaren. Darüber hinaus wurde überlegt, ob das Arbeiten in multiprofessionellen Teams unter Umständen auch einen Beitrag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und damit zur Zufriedenheit der Fachkräfte leisten könnte. Die Erweiterung der fachlichen Perspektiven sowie die Kenntnis und Verfügbarkeit unterschiedlicher Interventions- und Hilfemöglichkeiten könnten ggf. die Diagnostik verbessern sowie die Optionen im Umgang mit schwierigen und für die Kinder gefährdenden Lebenslagen von Familien erweitern.
Damit die hohen Erwartungen an multidisziplinäre Kooperation in Einzelfällen überhaupt erfüllt werden können, wurden insbesondere folgende vier Aspekte als wichtige Grundlagen hervorgehoben:
Multiprofessionelle Kooperation muss strukturell abgesichert werden. Hierzu gehören zeitliche und personelle Ressourcen sowie ausreichend finanzielle Mittel (nicht nur für Ärztinnen und Ärzte) sowohl für die Zusammenarbeit im Einzelfall als auch für die Koordination von Netzwerken. Hilfreich für den multiprofessionellen Austausch in Einzelfällen erscheint die Bereitstellung von externen personellen, zeitlichen oder finanziellen Mitteln für Moderation und Organisation - ähnlich wie dies im "Barnahus-Modell" der Fall ist. Eine wesentliche Grundlage für den Austausch von Informationen zwischen den Beteiligten in einem Hilfenetz sind die datenschutzrechtlichen Grundlagen. Nach dem Prinzip "so viel wie nötig, so wenig wie möglich" bedarf es hierfür einer fachlichen Klärung der Frage, welche Daten für eine qualifizierte multiprofessionelle Gefährdungseinschätzung ausgetauscht werden müssen. Zudem ist eine juristische Klärung nötig, welche datenschutzrechtlichen Änderungen dafür erforderlich wären.
Die an einer Gefährdungseinschätzung beteiligten Professionen folgen z.T. verschiedenen Denk- und Handlungslogiken und orientieren sich an jeweils unterschiedlichen Verfahren und Abläufen. Darüber hinaus gibt es professionsspezifische Sprachen, die in einem multiprofessionellen Austausch zu einer Hürde werden können. Insbesondere dann, wenn Begriffe wie "Kindeswohlgefährdung" unterschiedlich definiert werden, besteht das Risiko von Missverständnissen. Vor diesem Hintergrund bedarf es eines Austausches über die unterschiedlichen professionsspezifischen Logiken und eine Verständigung auf gemeinsame Begriffsdefinitionen – zumindest bei den Kernbegriffen der Kinderschutzarbeit.
Ob Kooperation gelingt, wird stark von der individuellen Haltung der einzelnen Akteure beeinflusst. Die Schaffung von Strukturen und die Vereinbarung von Kooperation reichen daher alleine nicht aus. Vielmehr braucht es die Bereitschaft und Offenheit der einzelnen Akteure vor Ort, sowohl Einblicke in die eigenen Denk- und Arbeitsweisen zu gewähren als auch – und vor allem – die Bereitschaft sich auf andere Perspektiven einzulassen. Neben der individuellen Haltung erscheint langfristig die Entwicklung einer gemeinsamen Kultur der Zusammenarbeit erstrebenswert. Darauf deuten die vielen Praxisbeispiele hin, die im Rahmen des Workshops vorgestellt wurden. Teil dieser Kultur ist beispielsweise die Entwicklung einer gemeinsamen Haltung im Umgang mit Eltern und Kindern.
Last but not least wurde sowohl durch die Diskussionen als auch anhand der Erfahrungsberichte aus den Praxisprojekten deutlich, dass die Organisation von multiprofessioneller Kooperation kein einfach und kurzfristig zu erreichendes Ziel ist. Insofern braucht es Geduld und Ausdauer bei allen Beteiligten sowie Mut, Lust und ausreichend Humor, um die verschiedenen Hürden zu meistern und langfristig den Kinderschutz zu verbessern.
Das Fachgespräch wurde von den Teilnehmenden als Raum für einen offenen und sehr wertschätzenden Diskurs erlebt und genutzt. Wünschenswert wäre, wenn auch weiterhin auf verschiedenen fachlichen Ebenen und in den verschiedenen Professionen solche Räume zum Diskurs bereitgestellt würden. Insofern bleibt zu hoffen, dass mit diesem Fachgespräch die bereits bestehenden Bemühungen um eine bessere Kooperation im Kinderschutz ein Stück weitergebracht und zugleich Impulse für den weiteren Diskurs gesetzt werden konnten.