Schütteltrauma als Zeichen hilfloser Überforderung und wütender Reaktion der Eltern
Ein Beitrag von Bärbel Derksen, Dipl. Psych., Psych. Psychotherapeutin, eine der Landeskoordinatorinnen der Frühen Hilfen in Brandenburg am Familienzentrum der Fachhochschule Potsdam
Eltern wissen grundsätzlich, dass ein Neugeborenes und ein Säugling gut unterstützt, sicher gehalten und getragen werden muss. Das Pflegepersonal in Kliniken, Hebammen und andere Fachkräfte zeigen den Eltern, wie ihr Kind versorgt werden muss und informieren über die Gefahren beim Umgang mit dem Baby. Trotzdem ist das Schütteltrauma eines der häufigsten Todesursachen bei Säuglingen.
Die erste Zeit mit einem Neugeborenen und Säugling erfordert große Kraftanstrengungen der Eltern, und nicht immer sind sie auf die neuen Herausforderungen und Veränderungen im Leben mit einem Kind gut vorbereitet. Auch haben manche Neugeborene deutlich mehr Schwierigkeiten bei der Anpassung an das extrauterine Leben als andere. Besonderheiten des Babys, der Geburt, der Umstellungen durch die neue Lebenssituation, Veränderungen in der Partnerschaft und Persönlichkeit der Eltern können das Leben mit einem Säugling zu einer besonderen Zerreißprobe werden lassen.
Die meisten Eltern wollen ihr Kind grundsätzlich nicht bewusst verletzten und wissen häufig, dass das Schütteln gefährlich ist. Doch die erste Zeit mit einem Neugeborenen oder Säugling ist erschöpfend und anstrengend mit schlaflosen Nächten, irritierend durch die vielen neuen Herausforderungen und zehrt an den Kräften der Eltern. Wenn ein Kind in einer solchen Situation nicht aufhört zu schreien und alle Beruhigungsstrategien der Eltern nicht helfen, kann sich die Situation zuspitzen. Ein Teufelskreis von Überforderung, Hilflosigkeit, Erschöpfung, Missverständnissen und Wut auf das Kind entwickelt sich und die Situation kann eskalieren (Papoušek et al. 2004). Verzweiflung und Frustration kann alle Eltern treffen, unabhängig von Bildungshintergrund, Informationen und familiärer Unterstützung. Der aufgestaute Ärger auf die eigene Hilflosigkeit und die Unfähigkeit des Kindes sich zu beruhigen, verstärken die ohnmächtige Verzweiflung. Als letzter Ausweg und vermeintlich als Lösung des Problems versuchen Eltern mit Schütteln und lautem Anschreien das Kind zum Aufhören und Schweigen zu bringen.
Die Einstellung zur frühen Elternschaft muss sich in der Gesellschaft noch weiter ändern, denn Elternschaft ist nicht immer einfach, und dieser besondere Lebensabschnitt wirft viele Fragen und Unsicherheiten auf. Die Anpassung in dieser Phase braucht Zeit und fürsorgliche Begleitung. Jede Frage der Eltern sollte daher Beachtung finden und nicht bagatellisiert werden. Freundliche Informationen wie "Verlassen Sie sich auf Ihre elterliche Intuition" oder "Das wird schon werden" und "Das wächst sich aus, jedes Kind hört mal auf zu Schreien" helfen Eltern nicht weiter, sondern verstärken nur ihr Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit und damit das familiäre Dilemma.
Fachkräfte brauchen mehr zeitliche Ressourcen und fachlich umfangreiches Wissen über die eigenen Ressortgrenzen hinaus, damit sie Eltern gut unterstützen können. Es muss noch selbstverständlicher werden, dass Angebote der Frühen Hilfen genutzt werden können. Gerade Schwangerschaftsberatungsstellen, Erziehungs- Familienberatungsstellen, Frühförderstellen mit teilweise schon vorhandenem interdisziplinären Fachwissen, aber auch medizinische, medizinisch therapeutische, psychologische Praxen vor Ort müssen sich stärker öffnen und frühe Angebote für Eltern selbstverständlicher anbieten. Hier geht es nicht darum, sogenannte "Schreibabyambulanzen" anzubieten. Eltern könnten dieses Angebot missverstehen und glauben, sich nur im Fall eines sehr stark schreienden Babys an Fachkräfte wenden zu können. Es muss deutlich werden, dass sich Eltern mit jeder noch so kleinen Frage oder Unsicherheit an eine spezifische Stelle oder Fachkraft der Frühen Hilfen wenden können und dass dies selbstverständlich zum Elternsein dazu gehört und anerkennend respektiert wird. Dies bedeutet vor allen Dingen auch, wohnortnahe Angebote zu schaffen mit unmittelbaren Möglichkeiten, Fragen zu stellen und Hilfen zu erhalten. Auch müssen sich Institutionen mit einer eher festgelegten "Kommstruktur" für die aufsuchende Arbeit öffnen. Eltern in solchen belasteten Lebenslagen sind meist nicht mehr in der Lage, sich auf den Weg zu machen. Die wertschätzende Haltung in den Frühen Hilfen bedeutet ein stärkeres Entgegenkommen der Fachkräfte gegenüber den Familien und ein stärkeres Nachgehen und Werben für Begleitung.
In den Frühen Hilfen müssen weiterhin wohnortnahe, fachlich kompetente, interdisziplinär vernetzte Angebote geschaffen und es muss für allgemeine Beratungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Institutionen gesorgt werden, damit es immer selbstverständlicher wird, dass Eltern auftretende Fragen und Unsicherheiten als auch Sorgen benennen und klären zu können. Diese Selbstverständlichkeit gilt auch für einen interdisziplinären, gegenseitig wertschätzenden Austausch.
Literatur
Papoušek, M./Schieche, M./Wurmser, H. (Hrsg.) (2004): Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Frühe Risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen. Bern: Huber