Chancen und Herausforderungen der Bundesinitiative Frühen Hilfen
Ein Gespräch mit Prof. Dr. Elisabeth Pott, Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), und Prof. Dr. Sabine Walper, Forschungsdirektorin am Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI), als Kurzfassung erschienen im ersten Infodienst "Bundesinitiative Frühe Hilfen aktuell" im Oktober 2013.
Die im Bundeskinderschutzgesetz verankerte Bundesinitiative Frühe Hilfen unterstützt seit Juli 2012 Bundesländer, Städte, Gemeinden und Landkreise in ihrem Engagement für die Frühen Hilfen. Bis Ende 2015 stellt der Bund über das Bundesministerium für Familie Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) dafür 177 Millionen Euro zusätzlich zu den bereits vorhandenen Angeboten vor Ort zur Verfügung.
Welche Chancen bietet die Bundesinitiative Frühe Hilfen?
Pott: Durch die Bundesinitiative Frühe Hilfen wird die Möglichkeit geschaffen, alle Familien von den guten Ansätzen, die seit einigen Jahren auf den unterschiedlichsten Ebenen in Kommunen, in Ländern und vom Bund erfolgreich entwickelt wurden, profitieren zu lassen – unabhängig davon, wo sie in Deutschland leben.
Walper: In den letzten Jahren konnten viele Erkenntnisse zu den Frühen Hilfen gewonnen werden, gerade hinsichtlich der interdisziplinären sowie interprofessionellen Netzwerkarbeit und des Einsatzes von Familienhebammen. Aber auch unterschiedliche Interventionsansätze wie z.B. STEEP wurden erprobt, die nun breit in die Praxis umgesetzt werden können.
Pott: Besonders freut mich, dass die Förderung von Familien und die Prävention ausgebaut und dafür auch Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Häufig wird betont, dass die frühzeitige passgenaue Unterstützung im Lebenslauf sowohl für die Betroffenen als auch für die Gesellschaft insgesamt die größte Rendite bringt. Allerdings stehen bei uns nicht Kosten und Nutzen, sondern die Vermeidung von Leid im Vordergrund.
Walper: Insbesondere für die Jugendhilfe ist es eine große Chance, die fördernden und präventiven Angebote für junge Familien auszubauen. Dies hilft auch, den Familien ein positives Bild über ihre Arbeit zu vermitteln. Die Eltern erleben von Anfang an z.B. das Jugendamt als eine Stelle, die sie dabei unterstützt, ihr Familienleben ggf. auch unter Belastung zu meistern.
Pott: Deutlich wird auch, wie wichtig in diesem Bereich eine gesetzliche Rahmung ist, um Dinge nachhaltig auf den Weg zu bringen. Auch wenn vorher bereits mit Kreativität und Engagement viel auf den Weg gebracht werden konnte, schafft die Verankerung der Frühen Hilfen im Bundeskinderschutzgesetz eine Verbindlichkeit. Damit ist gewährleistet, dass es jetzt überall vor Ort Frühe Hilfen gibt.
Die Bundesinitiative ist im letzten Jahr auf den Weg gebracht worden. Können Sie bereits einen ersten Eindruck schildern?
Walper: Es ist ungefähr ein Jahr her, dass die Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und den Ländern für die Bundesinitiative verabschiedet wurde. Zuerst mussten die Förderstrukturen geschaffen werden. In einem so großen Land mit föderalen Strukturen wie Deutschland hat dies einige Zeit benötigt. Die Bundesinitiative fördert bundeseinheitliche Strukturen und lässt dennoch genügend Spielraum für spezifische Anforderungen der Länder und der Kommunen.
Pott: Wichtig war es, durch die Bundesinitiative keine Doppelstrukturen zu schaffen, sondern bereits vorhandene Strukturen der Frühen Hilfen zu nutzen. Eine Zusammenarbeit mit den bestehenden Angeboten ist deshalb selbstverständlich. Nach Rückmeldungen aus der Praxis ist dies auch größtenteils gelungen.
Walper: Aus unseren Beobachtungen können wir sagen, dass die Bundesinitiative seit Anfang dieses Jahres so richtig in den Kommunen angekommen ist. Zwar gibt es noch einige organisatorische Schwierigkeiten, z.B. hinsichtlich des Antragswesens oder des Fachkräftemangels. Das Gute ist, dass ja jetzt noch nicht alles perfekt sitzen muss, Das kann es ja auch gar nicht angesichts der Komplexität dieser riesigen Aufgabe, die in allen Kommunen umgesetzt werden muss.
Pott: Wir nutzen die Zeit bis 2015, um vertiefte Erfahrungen zu sammeln, welche Umsetzungspraxis der Frühen Hilfen sich in den Kommunen bewährt. Dies bezieht sich auf die Netzwerke, den Einsatz von Familienhebammen und vergleichbaren Gesundheitsberufe sowie die Möglichkeiten und Grenzen des ehrenamtlichen Engagements – also auf alle Fördergegenstände der Bundesinitiative.
Walper: Hier sind insbesondere die Fragen zu klären, wodurch denn genau eine bessere Versorgung von Familien in Belastungssituationen erreicht wird, welche Qualitätsanforderungen erfüllt sein müssen, um dies zu garantieren. Dennoch ist die Zeit knapp, um all diese Erfahrungen auf wissenschaftlich fundierten Grund zu stellen.
Das NZFH ist als Koordinierungsstelle des Bundes vom BMFSFJ für die Bundesinitiative eingerichtet worden, was gehört genau zu seinen Aufgaben?
Pott: Ein Schwerpunkt ist die wissenschaftliche Begleitung der Bundesinitiative: wie sich der Strukturaufbau in den Kommunen entwickelt, was dabei förderlich oder auch hinderlich ist. Die Bundesinitiative unterstützt zum Beispiel interdisziplinäre Qualifikationsangebote für die zentralen Akteure. Zurzeit entwickeln wir Kompetenzprofile z.B. für Netzwerkkoordinierende, für die Gesundheitsfachberufe, aber auch generell für die interdisziplinäre Zusammenarbeit aller in den Frühen Hilfen Tätigen als Querschnittkompetenzen.
Walper: Vor allem werden wir in der Zeit, in der die Bundesinitiative existiert, mit wissenschaftlichen Studien auch der Versorgungssituation der Familien, die von Frühen Hilfen erreicht werden sollen, nachgehen. Dabei steht natürlich die Frage im Mittelpunkt, was bei den Familien von den Unterstützungsangeboten ankommt, die jetzt flächendeckend implementiert werden und vor allem, ob sie sie auch als hilfreich erleben. Eine weitere wichtige Forschungsfrage betrifft die Prävalenz, das heißt: Von wie vielen Familien reden wir überhaupt, die die Frühen Hilfen brauchen?
Pott: Nach Auslaufen der Bundesinitiative soll die Versorgung mit Frühen Hilfen auf Dauer sichergestellt werden. Dazu brauchen wir die Daten aus diesen Studien, um verlässliche Aussagen darüber machen zu können, welche Maßnahmen passgenau sind und wo die Mittel eingesetzt werden sollen.
Walper: Das ist ja ohnehin das Ziel der Bundesinitiative, noch einmal gezielt Erfahrungen zu sammeln, wie der Fonds eingesetzt werden soll. Die Ergebnisse fließen dann in zwei Berichte an den Deutschen Bundestag ein, die von Bund und Ländern gemeinsam verfasst werden. Die Bundesinitiative ist sozusagen die Probezeit für die Gestaltung des dauerhaften Fonds.
Pott: Darüber hinaus haben wir noch Koordinierungsaufgaben, wie zum Beispiel die Initiierung des regelmäßigen Austauschs mit den Landeskoordinierungsstellen. Gemeinsam mit ihnen erarbeiten wir Lösungen für Probleme und diskutieren die Optimierung des ganzen Prozesses. Es muss ja das Rad nicht immer neu erfunden werden. Das voneinander Lernen ist hier ganz wichtig.
Walper: Ohnehin gehört zu unseren Standards, dass wir die Akteure zusammenbringen, um gemeinsam Lösungen zu entwickeln. So beziehen wir in die Fachdiskussion auch die Akteure ein, die zentral an dem Ausbau der Bundesinitiative beteiligt sind wie z.B. die Familienhebammen oder die Familien-, Gesundheits-, Kinderkrankenpfleger/innen.
Was sehen Sie als größte Herausforderung bei der Umsetzung der Bundesinitiative?
Pott: Aus unseren bisherigen Studien wissen wir, dass es schwierig ist, eine systematische und verbindliche Zusammenarbeit der Akteure des Gesundheitswesens und der Jugendhilfe auf Augenhöhe zu organisieren. Ursprünglich war die Vermeidung von Vernachlässigung ausschließlich ein Thema der Jugendhilfe. Durch den präventiven Ansatz der Frühen Hilfen wurde es notwendig, Schutz, Früherkennung und Prävention zusammenzubringen. Dafür müssen die verschiedenen Bereiche zusammenarbeiten.
Walper: Und die Steuerung dieser Prozesse liegt beim Jugendamt. Das wurde ja durch das Bundeskinderschutzgesetz noch einmal bekräftigt. Dies gilt auch für die Durchführung der Bundesinitiative. Wenn die Vernetzung von Gesundheitswesen und Jugendhilfe gelingt, profitieren beide Bereiche, und in erster Linie selbstverständlich die betroffenen Familien.
Pott: Erschwert wird der Prozess dadurch, dass die Systeme unterschiedlichen Logiken folgen und eine Verständigung deshalb nicht einfach ist. Mit den Frühen Hilfen wird ein entscheidender Schritt zur Zusammenarbeit gemacht. Handlungsleitend sind dabei nicht Systemlogiken, sondern die Versorgungsbedarfe der Gruppen, die der Unterstützung bedürfen. Viele Kommunen machen sich inzwischen auf den Weg, lebensbegleitende und bedarfsorientierte kommunale Präventionsketten aufzubauen.
Walper: Eine weitere große Herausforderung sehe ich auch darin, ob es uns gelingt mit den Frühen Hilfen bei allen Akteurinnen und Akteuren eine durchgehend wertschätzende und partizipative Haltung den Eltern gegenüber einzunehmen. Bei den Frühen Hilfen handelt es sich ja um präventive Angebote, die freiwillig von den Eltern angenommen werden.
Welche Visionen haben Sie, wie sollte es weitergehen?
Pott: Ich bin gespannt auf die Schlussfolgerungen, die wir aus den Ergebnissen und Erfahrungen aus der Bundesinitiative ziehen können – welche Hinweise sie uns für die sinnvolle Verwendung der Mittel bei der Weiterentwicklung der Frühen Hilfen geben werden.
Walper: Wichtig ist vor allem, dass die Entscheidungen über den dauerhaften Ausbau der Frühen Hilfen vor Ort durch den Fonds von Entscheidungen getragen werden, die sich auf fundiertes Wissen stützen. Und dass wir auch den Mut haben, Dinge, die sich nicht bewähren, auch wieder fallen zu lassen zugunsten von erfolgversprechenderen.
Pott: Frühe Hilfen sollen in erster Linie einen Beitrag leisten, die Situation von Familien mit kleinen Kindern zu verbessern, insbesondere derjenigen Familien, denen es schwer fällt, ihren Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen.
Walper: Unsere Vision ist es, dass wir durch unsere Erkenntnisse einen fundierten Beitrag zum gesunden Aufwachsen der Kinder in Deutschland leisten. Deshalb ist die Weiterentwicklung des Feldes entlang der konkreten Bedarfslagen der Familien so entscheidend.