direkt zum Hauptinhalt springen

"Frühe Hilfen brauchen einen Kümmerer"

Fragen an Dr. med. Thomas Fischbach, der seit November 2015 Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) ist. Als Pädiater ist er in der Gemeinschaftspraxis "Kugelfisch" in Solingen niedergelassen. Eine gekürzte Fassung des Gesprächs hat das NZFH im Infodienst "Bundesinitiative Frühe Hilfen aktuell" im Dezember 2015 veröffentlicht.

Herr Dr. Fischbach, Sie haben im November dieses Jahres den Vorsitz des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) übernommen. Wie sehen Sie in dieser Funktion die Entwicklung der Frühen Hilfen in den letzten Jahren?

Die Entwicklung sehe ich durchaus positiv, wenngleich es noch erheblichen Verbesserungsbedarf gibt. Nach wie vor funktioniert das Miteinander von Jugendhilfe und Gesundheitswesen, nicht zuletzt wegen der oftmals durch die jeweilige Fachsprache geprägten Missverständnisse, nicht optimal. Pädiater verstehen unter „Kindeswohlgefährdung“ etwas anderes als die Jugendhilfe, die diesen Begriff wesentlich enger auslegt. Es fehlt häufig am Verständnis für die Gegenseite.

Sie haben sich in den letzten Jahren in den Frühen Hilfen engagiert. Was war Ihre Motivation?

Das Thema ist uns Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzten äußerst wichtig. Wir sehen diese Kinder und Jugendlichen täglich in unseren Praxen und wissen, dass Kinder aus anregungsarmen, sich zu wenig um ihren Nachwuchs kümmernden Elternhäusern ohne Unterstützung von außen meist keine guten Lebenschancen haben. Da gelingen Schule und Ausbildung meist ebenso wenig wie später Partnerschaft und das eigene Elternsein.

Wir wissen aus unseren Studien, dass es noch nicht gelungen ist, die Kinder- und Jugendärzte flächendeckend in die Netzwerke Frühe Hilfen zu integrieren. Wie können niedergelassene Pädiater und Pädiaterinnen stärker als bisher für die Kooperation in den Netzwerken Frühe Hilfen motiviert werden?

Zusammenarbeit kann nicht einfach „von oben“ verordnet werden, sie muss sich vielmehr durch persönliche Kontakte vor Ort entwickeln. Also müssen sich die Menschen erst einmal begegnen, z. B. bei Pädiaterstammtischen oder Qualitätszirkeln. Das Projekt des NZFH und der KBV (Kassenärztliche Bundesvereinigung) „Vernetzung von vertragsärztlichen Qualitätszirkeln mit den Angebotsstrukturen der Frühen Hilfen“geht in diese Richtung. Dafür brauchen Sie aber einen „Kümmerer“, der für die Frühen Hilfen brennt.

Wie kann aus Ihrer Sicht die Kommunikation und Kooperation mit der Kinder- und Jugendhilfe in den Netzwerken Frühe Hilfen gelingen? Nennen Sie uns ein konkretes Beispiel aus Ihrer Praxis?

Wir haben das Zusammenrücken von Jugendhilfe und Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzten in Solingen bereits vor Jahren realisiert. Wir haben uns häufig im Qualitätszirkel getroffen; die Kommunale Gesundheitskonferenz hatte darüber hinaus eine Arbeitsgruppe Kindergesundheit eingerichtet, die Verbesserungsideen entwickelt und kommuniziert hatte. Heute hat Solingen auf Jugendamtsebene einen spezifischen Ansprechpartner für die Pädiater bei Fragen der Kindeswohlgefährdung und der Frühen Hilfen. Zudem haben alle Solinger Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte seitens des ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst) ständig aktualisierte Listen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inkl. Angaben zu deren Erreichbarkeit.

Wie kann man die Frühen Hilfen nachhaltig in der Arbeit der niedergelassenen Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzten verankern?

Pädiater können diese umfänglichen Aufgaben nur erfüllen, wenn diese angemessen vergütet werden. Dies ist trotz kleiner Verbesserungen im EBM (Einheitlicher Bewertungsmaßstab, Gebührenordnung der Gesetzlichen Krankenkassen) bisher nicht ansatzweise der Fall. Hier sind KBV und GKV (Gesetzliche Krankenversicherung) -Spitzenverband gefragt und gefordert!

Welche Barrieren müssen überwunden werden?

Es fehlt sicher nicht am guten Willen, aber in der Tat ganz wesentlich an Lösungen. Problemfelder sind etwa Kommunikationshürden, Honorarfrage und Zusatzbelastungen.

Im neuen Präventionsgesetz werden niedergelassene Ärzte und Ärztinnen in den Gesundheitsuntersuchungen für Kinder und Jugendliche veranlasst, bei der präventionsorientierten Beratung auch über kommunale Unterstützungsangebote zu informieren. Kann dies ein Ansatzpunkt für das Handlungsfeld Frühen Hilfen sein?

Diese Änderung der Kinderrichtlinie haben wir als BVKJ selbst stets gefordert und in die Politik wie die ärztliche Selbstverwaltung eingebracht. Aber auch hier gilt das, was ich bereits in der letzten Frage angerissen habe.

Welche Instrumente werden für eine systematische Überleitung von Familien innerhalb der Hilfesysteme gebraucht?

Wir brauchen eine Anlaufstelle, einen Kümmerer, an den wir Ärztinnen und Ärzte uns direkt wenden können und der das Erforderliche in Gang bringt. Das können wir selbst alleine aus Zeitmangel nicht leisten. Ob diese Anlaufstelle dann beim Jugendamt oder beim Gesundheitsamt angesiedelt ist, halte ich für zweitrangig, wenngleich Ärzte sicherlich lieber mit dem Gesundheitsamt sprechen, da dort die „gleiche Sprache“ gesprochen wird.

Sind Frühe Hilfen ein Thema in Facharztausbildung und Fortbildung?

Unbedingt!

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte spielt auch eine gesellschafts- und sozialpolitische Rolle und setzt sich für bessere Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen ein. Auf der Homepage hat der Verband ausdrücklich zur medizinischen Versorgung minderjähriger Flüchtlinge Position bezogen. Ihre Prognose: Sind asylsuchende Familien zukünftig auch ein Thema in den Frühen Hilfen?

Dies haben wir in der Tat getan und fordern, dass alle Kinder und Jugendliche, die als Flüchtlinge in unser Land kommen, den gleichen Zugang zum Gesundheitswesen erhalten müssen wie einheimische. Dies gebietet die Kinderrechte-Charta der WHO, die Deutschland unterzeichnet hat und nach der jedes Kind einen Anspruch auf bestmögliche medizinische Versorgung hat.

Welche (zusätzlichen) Kompetenzen könnten hier erforderlich werden?

Viele Flüchtlingskinder haben Schlimmes erlebt, sowohl vor ihrer Flucht als auch auf dem Weg nach Deutschland. Sie sprechen uns fremde Sprachen und leiden teilweise an Krankheiten, die in Deutschland Seltenheitswert haben. Kommunikationsmöglichkeiten über geeignete und verfügbare Dolmetscher sind ebenso notwendig wie ein einfacher Zugang zu Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, möglichst mit Erfahrung im Bereich der Traumatherapie.

Infodienst Bundesinitiative FRÜHE HILFEN aktuell