Stillen lernen ist wie Tanzen lernen
Maria Flothkötter ist Ernährungswissenschaftlerin und leitet das Netzwerk Gesund ins Leben, das zum Bundeszentrum für Ernährung (BZfE) gehört. Im Gespräch erläutert sie, warum es so wichtig ist, dass Fachkräfte in den Frühen Hilfen auch die Ernährung von Familien im Blick haben.
Auszüge des Gesprächs sind im Frühe Hilfen aktuell 2/2024 erschienen.
Frau Flothkötter, Mütter in belasteten Lebenslagen stillen seltener und kürzer. Warum ist das so?
In unserer qualitativen Studie haben wir festgestellt, dass viele Frauen in belasteten Lebenslagen häufig nicht oder nur kurz gestillt haben. Häufig ist es so, dass die Vorteile des Stillens, die ja an vielen Stellen kommuniziert werden, nicht bekannt sind oder als unglaubwürdig empfunden werden. Typische Aussagen waren: "Ich habe mich wenig auf das Stillen vorbereitet" "Ich bin der Meinung, dass Muttermilch und Säuglings-Milchnahrung gleichwertig sind." Dann besteht oft die Annahme "Wenn mein Kind unruhig ist, hat es immer Hunger." Unwohlsein des Kindes wird zudem oft mit Hunger assoziiert. Bei Familien in belasteten Lebenslagen ist auch die Sorge weit verbreitet, dass das Kind durch ausschließliches Stillen nicht satt wird. Das ist meist unbegründet, aber ein häufiger Grund, mit dem Stillen aufzuhören. Auch negative Stillerfahrungen und Stillschwierigkeiten, etwa mit einem älteren Kind, können dazu führen, dass beim zweiten Kind das Stillen nicht erneut versucht wird. Ebenso der fehlende Glaube daran, dass Stillen zur Bindung beitragen kann, wird angeführt. Das sind in einer qualitativen Befragung immer Schlaglichter. Man kann daraus nicht ableiten, dass Frauen mit sozialer Belastung Stillen durchweg nicht als Ressource betrachten. Es gibt unter ihnen auch Frauen, die durchaus lange gestillt haben. Durch frühzeitiges Ansprechen der Mutter auf das Stillen und die Wahl der Säuglingsnahrung können Fachkräfte Fehlinformationen erkennen und ihnen entgegenwirken. Dabei ist große Sensibilität gefragt. Wir haben auch festgestellt, dass Stillen insbesondere für Frauen in belasteten Lebenslagen ein besonders emotionales und sensibles Thema ist. Sie erleben häufig gesellschaftlichen Druck und sie erleben Stress viel stärker. Unangemessene Kommentare aus dem näheren oder weiteren Umfeld kennt, glaube ich, jede Mutter. Das erleben diese Frauen besonders ausgeprägt, die nicht stillen oder kurz gestillt haben. Viele Probleme, die mit dem Stillen an sich zu tun haben, falsche Annahmen beim Thema Ernährung, wunde Brustwarzen und Ähnliches, sind durch gute Begleitung absolut vermeidbar.
Warum ist das Thema Ernährung schon von Geburt an wichtig?
Ich würde sogar noch vor die Phase der Geburt gehen, denn man weiß, dass im Zeitfenster dieser ersten 1.000 Tage, von der Konzeption bis zum Ende des zweiten Lebensjahres, schon eine sehr gravierende Prägung und Programmierung des kindlichen Stoffwechsels stattfindet. Der elterliche Lebensstil, die Ernährung der Mutter, aber auch des Vaters, spielen eine große Rolle. Schon vor der Geburt findet eine Geschmacksprägung über das Fruchtwasser im Mutterleib statt. Es ist schwierig, mit den Schwangeren zu diesem Thema ins Gespräch zu kommen. Das Interesse junger Familien am Thema Ernährung des Kindes beginnt, wenn es geboren ist.
Eine stillvorbereitende Beratung in der Schwangerschaft kann die Kompetenzen, die Selbstwirksamkeitserfahrungen der Mutter, dann für die Zeit nach der Geburt erheblich verbessern. Aber das findet nicht statt und hat auch im Moment noch keinen Platz in unserer Gesundheitsvorsorge.
In den ersten drei Lebensjahren findet eine intensive Geschmacks- und Verhaltensprägung bezüglich des Essens statt. Kann das Kind zum Beispiel frei entscheiden, was und wie viel es isst? Welche Geschmacksrichtungen lernt es kennen? Welche Mahlzeitenrhythmen gibt es? All dies wirkt sich prägend auf das spätere Essverhalten des Kindes aus. Essen ist ja nicht nur von der physiologischen Seite zu betrachten, also das, was man isst, sondern es finden auch kulturelle Prägungen statt: In welchem Umfeld wächst das Kind auf? Schon im Norden oder Süden der Republik gibt es andere Essensgewohnheiten; die Vielfalt internationaler kulinarischer Einflüsse ist in Deutschland allgegenwärtig und nicht mehr wegzudenken.
Das Verhalten der Eltern ist in dieser Lebensphase und natürlich auch darüber hinaus sehr maßgeblich. Was und wie sie essen, ist ein starkes Vorbild für die Kinder. Die Essumgebung, das Einkaufen, das Zubereiten, die eigentliche Esskultur − die Mahlzeit ist ein Ort der Begegnung, wo alle zusammenkommen, an dem Beziehung und Verbindung in der Familie gelebt werden.
Dabei fällt es solchen Eltern besonders schwer, ihren Kindern eine adäquate Essumgebung zu bereiten, die in ihrer Kindheit und Biografie selbst keinen Bezug hierzu aufbauen konnten. Ist das Essen nett gemacht, hat man Zeit, läuft der Fernseher nebenher oder gibt es immer Stress beim Essen? All die Dinge prägen und beeinflussen, ob man gerne in Gesellschaft ist, gerne mit der Familie zusammensitzt, ob Bindung positiv erfahren wird.
Warum ist es wichtig, dass Eltern Zeichen von Hunger oder Sättigung richtig deuten?
Da gibt es zwei Aspekte, auf die ich fokussieren möchte: Zum einen das Thema des feinfühligen Umgangs mit den Bedürfnissen des Kindes, den die Eltern mit der Zeit lernen. Welches Weinen bedeutet zum Beispiel Hunger, welches Weinen bedeutet, nimm mich mal in den Arm − das richtig zu deuten und adäquat darauf reagieren, gibt den Kindern Sicherheit und Geborgenheit.
Der zweite Aspekt hat mit Erkenntnissen aus der Adipositas-Forschung zu tun. Für eine gesunde Gewichtsentwicklung ist es enorm wichtig, das Gefühl von Hunger nicht mit anderen Gefühlen, Stimmungen oder Bedürfnissen zu verwechseln. Das kann passieren, wenn Eltern auf jegliches Quengeln, Unwohlsein oder Weinen des Kindes mit Essen antworten. Es ist unheimlich wichtig, dass Eltern das richtig zu deuten lernen. Es ist wie gesagt völlig normal, dass Eltern das am Anfang nicht wissen. Das ist ein Entwicklungsprozess, bei dem es darum geht, die Körperhaltung, die Mimik, die Laute zu beachten und nicht immer direkt etwas zu trinken oder zu essen anzubieten. Wichtig ist, dass das Kind in die Aktivität kommt und seinem Bedürfnis gerecht handelt, also man zum Beispiel beim Stillen die Brust anbietet, sie dem Kind aber nicht gleich in den Mund steckt. Dasselbe gilt für die Flasche. Es braucht die aktive Suchbewegung des Kindes. Wichtig ist auch, Anzeichen für Hunger wie die Faust im Mund des Säuglings frühzeitig erkennen zu können, damit es nicht in Stress ausartet.
Sind die Empfehlungen einer gesundheitsfördernden Ernährung für alle Familien gleich umsetzbar? Welche Barrieren könnte es geben?
Die Antwort ist nein. Ganz wichtig: Alle Familien streben das Ziel an, ihre Kinder gesund zu ernähren, aber die Ressourcen, das Wissen und die Kompetenzen, auf die sie zurückgreifen können, sind einfach sehr ungleich verteilt. In diesem Bereich existieren viele Barrieren. Die Fähigkeit, Wissen in Handeln zu überführen, kann eingeschränkt sein. Ebenso wie Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, die Erwartung, ich schaffe das, ich kriege das hin mit dem Stillen, mit dem selbst Kochen des Breis. Da hängt es davon ab, welche Erfahrungen die Eltern selbst gesammelt haben. Das beginnt beim Einkaufen oder vielleicht sogar noch einen Schritt früher beim Schreiben des Einkaufszettels oder einer Einkaufsliste im Handy. Man muss überlegen: Wo kaufe ich die Zutaten ein, was kaufe ich, woran erkenne ich frische Produkte und wie bereite ich sie dann zu? Eigentlich gibt es, was das Kochen angeht, kaum etwas Einfacheres, als zum Beispiel einen ersten Brei zuzubereiten. Aber man muss es sich zutrauen und man muss auch wissen, dass es einfach ist. Wenn das Kind nach fünf Löffeln satt ist, ist das auch nicht motivierend. Aber so ist das dann bei Kindern. Es dauert am Anfang ein bisschen, bis das Kind eine ganze Mahlzeit vom Löffel essen kann.
Was empfehlen Sie Fachkräften, die junge Familien beraten?
Hier sind die Gesundheitsfachkräfte in den Frühen Hilfen von großer Bedeutung. Es ist sehr gut und wichtig, dass sie in die Familien kommen und sehen können, wo vielleicht gerade Unterstützungsbedarf herrscht und was gut funktioniert. Es gibt immer auch Ansatzpunkte für gute Entwicklungen in den Familien. In den Videos des neuen Online-Kurses "Essalltag in Familien gestalten" auf der Lernplattform des NZFH wurde sehr schön dargestellt, wie man an Situationen in der Familie andockt und passende Information hereingibt.
Von zentraler Bedeutung ist die Haltung, die die Fachkräfte den Familien entgegenbringen. Viele dieser Frauen haben schon Ablehnung oder Abwertung erlebt. Dann ist es umso wichtiger, den Familien wertschätzend, empathisch und offen zu begegnen. Als Fachkraft muss ich mich einlassen können, wahrnehmen, nicht gleich eigene Schlüsse ziehen, sondern herausfinden: Was ist den Menschen wichtig momentan? Die Familie soll sich gehört und verstanden fühlen. Dann kann man gemeinsam versuchen rauszufinden, in welche Richtung es gehen kann und was vielleicht erste kleine Schritte sein können, die helfen, den Alltag zu erleichtern und das Ziel, das Kind gesund zu ernähren, auch umzusetzen. Wir empfehlen die Methode der motivierenden Gesprächsführung. Sie stärkt die Bereitschaft zur Veränderung. Letztlich entscheidet aber die Familie, welchem Aspekt einer gesunden Ernährung sie sich zuwendet.
Ein wichtiges Thema ist zum Beispiel Zucker in den Getränken. Zuckerhaltige Getränke sind der größte Risikofaktor für Übergewicht. Es geht darum, rauszufinden, woran die Familie gut und gern arbeiten kann. Wir müssen als Fachkräfte aus einer bevormundenden Haltung heraus. Wir sollten den Eltern eine "Good-enough-Haltung" vermitteln. Wir streben in unserer Gesellschaft an vielen Stellen nach Perfektion, das sehen wir zum Beispiel in den sozialen Medien. Wenn es aber darum geht, die Signale eines Kindes richtig zu interpretieren, ist das ein Lernprozess, und dazu gehört auch, dass man Fehler macht, an seiner Erwartungshaltung arbeitet und sagen kann: Das ist gut genug.
Wenn etwas im Umgang mit dem Kind Stress erzeugt, können Eltern versuchen, die Perspektive des Kindes einzunehmen. Das eröffnet Gestaltungsspielräume Eltern erkennen leichter, was könnte denn an der Stelle einen positiven Effekt haben? Kann ich das Kind bei der Essenszubereitung einbeziehen? Wenn man das Gefühl hat, die Kinder gehen nicht gut mit dem Essen um oder sind extrem wählerisch oder es gibt Matscherei am Esstisch, kann die Fachkraft erklären, dass es für Kinder wichtig ist, das Essen mit allen Sinnen zu kennenzulernen und sich auch sonst mir seiner Umgebung auseinanderzusetzen. Das kann wertvoll sein. Vielleicht empfindet die Mutter es als Geringschätzung ihrer Person, dass das, was sie gekocht hat, auf dem Fußboden landet. Dann wäre zu fragen, warum das Kind das macht und wie Eltern vielleicht den Essplatz des Kindes so gestalten, dass da nicht der gute Teppich drunter liegt.
Welche Unterstützung wünschen sich sozial benachteiligte Familien beim Stillen und bei der Ernährung?
Sie wünschen sich Wertschätzung und Anerkennung. Jede Mutter möchte ihrem Kind das Beste angedeihen lassen. Die Mittel, die dafür zur Verfügung stehen, sind unterschiedlich und das muss man wissen. Niemand sollte aufgrund seiner mangelnden Möglichkeiten beurteilt werden. Man muss sich auf Augenhöhe begegnen und gemeinsam überlegen, was unterstützend sein könnte. Wenn es um das Stillen und die Ernährung geht, sollten die Familien schon früh, am besten vor der Geburt erreicht werden.
Wenn Frauen aus belasteten Lebenslagen sagen, sie wünschen sich eine realistischere Darstellung des Stillens, meinen sie damit, dass zu wenig über Anpassungsschwierigkeiten gesprochen wird. Es gibt einen Stillexperten, der sagt, Stillen lernen ist wie Tanzen lernen. Man muss sich immer erst mal eintanzen, bevor man mit seinem Partner gut übers Parkett gleitet.