Eltern müssen nicht perfekt sein
Professorin Dr. Ute Ziegenhain ist Pädagogin und Entwicklungspsychologin am Universitätsklinikum Ulm. Im Gespräch erklärt sie, wie Bindungen entstehen und warum Fachkräfte Eltern darin bestärken sollten, nicht alles richtig machen zu wollen.
Auszüge des Gesprächs sind Frühe Hilfen aktuell 2/2024 erschienen.
Frau Prof. Ziegenhain, wie kann Stillen die Mutter-Kind-Bindung fördern?
Natürlich kann Stillen, wie so viele alltägliche Situationen mit dem Säugling, die Bindung zwischen Mutter und Kind fördern. Bindung entwickelt sich in alltäglichen Interaktionen zwischen dem Kind und den Eltern, und die Babys, Säuglinge und Kleinkinder binden sich an diejenigen Menschen, die sich im Alltag um sie kümmern.
Stillen findet im Körperkontakt statt. Im Kontakt mit einer Bindungsperson lernen Babys zunehmend ihre physiologischen Zustände, Hunger, Müdigkeit, aber auch negative Gefühle und Unwohlsein zu regulieren. Insofern ist Bindung ein psychobiologischer Mechanismus bei Belastung, bei Stress. In Kontakt mit der Bindungsperson klingt die damit einhergehende innere Erregung wieder ab. Hier sind tatsächlich alle in die Stressregulation involvierten Regulationskreisläufe beteiligt. Und dann wird bei Nähe, bei Körperkontakt und Blickkontakt, Oxytocin ausgeschüttet, das in sozialen Beziehungen Verbundenheit fördert.
Das ist das eine. Und dann geht es natürlich beim Stillen auch darum, wie die Situation gestaltet wird, ob es in einer ruhigen und angenehmen Situation stattfindet, ob die Mutter entspannt ist, wie gut sie die Bedürfnisse des Babys lesen kann, wie feinfühlig, wie angemessen sie auf den Säugling reagiert Und das bezieht insbesondere auch emotionale Wärme im Umgang mit ihm einen. Feinfühliges Verhalten geht gewöhnlich mit einer sicheren Bindung beim Kind einher. Auf der Basis sicherer Bindung können Kinder dann eine gelingende sozial-emotionale Entwicklung durchlaufen.
Also ja, Stillen gehört einfach zum Repertoire von Beziehungs- und Bindungsaufbau. Aber wir müssen sehen, in welchem Rahmen das möglich ist. Dass Mütter gestresst sind, bleibt nicht aus im Alltag mit kleinen Kindern. Sie setzen sich vielleicht auch unter Druck, alles gut machen zu müssen. Dann wird es schwieriger, feinfühlig zu reagieren.
Entsteht eine sichere Bindung nur durch Stillen? Und nur zur Mutter?
Ein klares Nein. Stillen ist eine intime Interaktion; es fördert die Ausschüttung von Oxytocin und damit Verbundenheit. Stillen ist aber auch eine von vielen Interaktionen im Alltag, in denen sich Bindung entwickelt. In ihrer Qualität werden sie von Eltern und Kind ausgestaltet, je nach deren Lebenssituation. Stillen hat einen hohen Stellenwert. Eltern oder Mütter machen sich Sorgen, wenn es aus unterschiedlichen Gründen mit dem Stillen nicht klappt. Aber es gefährdet nicht die sichere Bindung, wenn Mütter nicht Stillen, sondern es sind viele Alltagssituationen, in denen Mütter, aber auch andere Bezugspersonen und das Kind gemeinsam die Beziehung gestalten.
Es geht auch nicht nur um die Mutter, das hatte man früher angenommen. Es geht auch nicht um die Blutsverwandtschaft. Kinder entwickeln Bindungen zu denjenigen Menschen, die da sind, die sich um sie kümmern. Das sind in der Regel Mutter und Vater, das sind aber auch Großeltern, Pflegeeltern oder auch Kita-Erzieherinnen, wenn sie sich hinreichend zur Verfügung stellen, wenn sie emotional etwas investieren. Hier liegen auch große Chancen der Entlastung im Familiensystem.
Und die Bindungen sind in ihrer Qualität auch unterschiedlich zur Mutter und zum Vater, und damit kommen Kinder richtig gut zurecht und sich sehr flexibel. Sie brauchen einfach ein Gefühl von emotionaler Sicherheit, Angebundensein, und das muss verlässlich da sein. Das ist die die Grundlage für ein gutes Gedeihen und für eine gute Entwicklung.
Warum ist Essen mehr als reine Nahrungsaufnahme?
Essen ist ein soziales Ereignis und damit mehr als nur Nahrungsaufnahme. Wir haben es mit immer wiederkehrenden Ritualen zu tun, die Familien unterschiedlich für sich entwickeln, die Gestaltung der Mahlzeiten und so weiter. Das sind Alltagssituationen, in denen Kinder sich angenommen und wohl fühlen. Entwicklungspsychologisch sind es Situationen, in denen kleine Kinder lernen, Gefühle von Hunger und Sättigung zunehmend selbst zu steuern. Wenn ein Kind bestimmt, wann es satt ist, wenn es das fühlen und ausprobieren darf, sind das wichtige Lernerfahrungen. Sie erleben Selbstwirksamkeit. Das ist neben Bindung ebenso wichtig, dass Kinder Autonomie und Selbstständigkeit erleben und lernen.
Wie lassen sich bindungsförderliche Impulse beim Essen umsetzen?
Nicht alles ist Bindung. Bindung im engeren Sinne setze ich nicht unbedingt beim Essen um. Es geht eher darum, verschiedene entwicklungsanregende Situationen gut zu gestalten. Wichtig ist, dass Kinder die Zeit mit ihren Eltern und die Eltern die Zeit mit ihren Kindern genießen. Beziehung wird gefördert, wenn Familien Spaß miteinander haben. Gemeinsames Essen kann eine wunderbare Situation sein, um es schön zu haben und auch, den Kindern zunehmend Eigenständigkeit zu ermöglichen. Es geht darum, einen Rahmen zu setzen: Kinder werden ja in die Familie oder in unsere Kultur und Gesellschaft hinein sozialisiert. In diesem Rahmen können Eltern sich feinfühlig verhalten und sehen, wo die Kinder stehen, welche Bedürfnisse sie haben, ihnen aber zugleich Grenzen zu setzen, wo es nötig erscheint. In solchen Situationen kann es auch gelingen, dem Kind die Perspektive der anderen Familienmitglieder nahezubringen.
Da geschieht intuitiv sehr viel, wofür es keinen Plan gibt und wo es vor allem um Einfühlung geht. Je nach Alter des Kindes kann das bedeuten, dass die Kinder nicht unbedingt alles essen müssen, dass sie gegebenenfalls auch ins Essen fassen dürfen, dass sie vielleicht einen Löffel hingelegt bekommen etc. Und das muss für die Eltern passen, die sich nicht selbst überfordern sollten.
Es geht nicht darum, dass alle am Tisch sitzen und sich gleich verhalten müssen, sondern Feinfühligkeit bedeutet, das Alter und die jeweiligen Bedürfnisse der Kinder zu sehen. Das wäre auch für die Fachberatung wichtig zu sehen: Wo werden alle Familienmitglieder und alle Perspektiven berücksichtigt? Und gerade beim Essen ist das sehr individuell. Da sind unterschiedliche Grenzen von Ekel, was darf das Kind Essen und so weiter. Es ist ein großer Spielraum, der auch sehr von der Prägung der Eltern abhängt, davon, was sie selbst als Mahlzeitengestaltung erlebt haben.
Eltern sollten vermitteln, dass sie die Bedürfnisse des Kindes verstehen, aber nicht jeder Wunsch muss sofort erfüllt werden. Wenn das Kind jetzt eine Süßigkeit will, kann das auch auf später verschoben werden, ohne eine sofortige Wunscherfüllung. Kinder lernen eigentlich nebenbei beim Essen, auch in Spielsituationen, wichtige Kompetenzen: Ich kann meine Bedürfnisse aufschieben. Das ist für kleine Kinder nicht einfach, aber es ist ein ganz wichtiges Entwicklungsziel, Frustrationstoleranz zu haben. Auch die Emotionsregulation spielt da rein und das sind Kompetenzen, die zentral sind für späteres gutes Zurechtkommen von Kindern in sozialen Beziehungen, aber auch für Leistungserfolg in der Schule.
Sind die Empfehlungen einer gesundheitsfördernden Ernährung für alle Familien gleich umsetzbar?
Sicher nicht. Natürlich haben wir die klassischen Faktoren, die eine Rolle spielen, wenn Eltern belastet sind, wenn der Tagesablauf so schwierig ist, dass man kaum einmal eine gemeinsame Mahlzeit hat. Dann ist es wichtig, sich nicht unter Druck zu setzen, sondern abzuwägen: Quälen wir uns jetzt alle oder machen wir am Wochenende was Gemeinsames? Wir müssen die Vielfalt dessen sehen, was man gestalten kann. Es hängt nicht an diesem "Wir sitzen jeden Tag um 12 zusammen" ab, sondern wir haben einfach Quality Time in der in der Familie, wenn es passt und stressfrei möglich ist.
Noch einmal zum Stillen: Stillen ist ohne Frage gesundheitsförderlich, aber wenn hoch belastete Menschen, zum Beispiel jugendliche Mütter, nicht stillen oder sehr früh abstillen, können sie an anderer Stelle in ihren elterlichen Beziehungskompetenzen beraten und gefördert werden. Es kann nicht darum gehen, dass man nur das Stillen oder die gemeinsamen Mahlzeiten propagiert. Natürlich ist das wunderbar, aber es gibt viele Variationen und da bin ich auch sehr optimistisch, denn Kinder gedeihen tatsächlich gut in unterschiedlichsten Lebenswelten und unter ganz unterschiedlichen Bedingungen, das ist durch die Forschung gut belegt. Natürlich gibt es Grenzen wie Vernachlässigung, Gewalt. Aber darüber sprechen wir hier jetzt nicht.
Was würden Sie Fachkräften zusätzlich raten?
Um junge Eltern zu entlasten, würde ich raten, sie zu bestärken, dass sie nicht perfekt sein müssen. Perfekte Eltern gibt es nicht. Das ist schon deswegen nicht möglich, weil sich Babys so rasant entwickeln und Eltern sich ständig neu anpassen müssen. Im Englischen gibt es das schöne Wort "good enough parenting", in dem die Kinder sich sogar besser entwickeln. Das lässt sich darauf zurückführen, dass es für Kinder neben der emotionalen Sicherheit in der Beziehung um Entwicklung von Selbstständigkeit, von Selbstbewusstsein geht, also um Herausforderungen im Alltag, wo Selbstwirksamkeit erlebt werden kann. Das ist genauso wichtig, um sich gut zu entwickeln.
Piaget, der berühmte Entwicklungspsychologe, hat mal gesagt, Entwicklung vollzieht sich am Widerstand. Es braucht immer wieder so kleine Anreize, so kleine Dinge, die nicht klappen, dass Kinder sich herausgefordert fühlen und sich dann weiterentwickeln. Dann sind die auch unheimlich stolz: Das Einjährige, das laufen kann und zum ersten Mal Nachziehspielzeug aufrechtstehend hinter sich herzieht. Diese Freude kommt von innen und ist das, was Kinder auch für eine gute Entwicklung brauchen. Bindung ist dann die sichere Basis, von der aus Kinder sich gut entwickeln. Mary Ainsworth, die neben Bowlby die große Protagonistin in der Bindungsforschung ist, hat mal gesagt: Eine sichere Basis, von der aus Kinder dann forschend in die Welt gehen.
Eltern hilft es zu sehen, wie wichtig sie für die gute Entwicklung ihres Kindes sind, wenn sie sich einlassen können, emotional präsent und nicht gestresst sind. Hier können Fachkräfte Eltern entlasten. Bindung entwickelt sich in Beziehungen, das heißt, dass Mütter und auch Väter auch für sich selbst Sorgen müssen. Selbstfürsorge ist ein besonders wichtiger Aspekt bei der Unterstützung junger Familien.