Echte Pionierarbeit für Netzwerke
Judith Rieger begleitet im Auftrag des NZFH ein Projekt zur Qualitätsentwicklung in Kommunen. Gemeinsam mit Professorin Dr. Gaby Straßburger hat sie die NZFH-Publikation Partizipation in den Frühen Hilfen verfasst. Im Gespräch geht sie auf zentrale Aspekte ein. Eine Kurzfassung ist im Frühe Hilfen aktuell 2/2023 erschienen.
Warum ist Elternpartizipation in den Frühen Hilfen wichtig?
Die Frühen Hilfen bilden heute einen sehr wichtigen Teil der präventiv ausgerichteten sozialen Infrastruktur für werdende Eltern und Familien mit sehr kleinen Kindern. Ich finde, in den Frühen Hilfen steckt ein enormes formatives Potenzial, wenn es darum geht, wie die Gesellschaft Wertschätzung gegenüber dieser Zielgruppe zum Ausdruck bringen kann. Gemeinsam mit den Eltern können in den Frühen Hilfen Angebote konzipiert und realisiert werden, die zeitnah auf gesellschaftliche Herausforderungen reagieren, mit denen Familien in unterschiedlichen Lebensformen konfrontiert sind; etwa bei der Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder bei der Frage "Was bedeutet Familienfreundlichkeit bei uns vor Ort im öffentlichen Raum?"
Frühe Hilfen sollen auch beitragen, benachteiligte Lebenslagen zu entschärfen und die Entwicklungs- und Bildungschancen der von Armut betroffenen Kinder zu verbessern. Frühe Hilfen tragen dazu bei, dass Kindern Lernorte zur Verfügung gestellt werden, wo sie sich ausprobieren und entfalten dürfen. Wenn belastete Eltern von den Frühen Hilfen erreicht werden sollen, sind Fachkräfte gut beraten, sich bereits bei der Konzeption von Angeboten zu überlegen, was vor Ort passt und wie sie sich schon an diesem Punkt mit den Eltern austauschen können. Damit kann der Partizipationsprozess beginnen. Die Frage, auf welchen konkreten Bedarf mit den Frühen Hilfen reagiert werden soll, lässt sich meines Erachtens nicht ohne die Eltern beantworten. Sie sind ja die Zielgruppe. Was von den bestehenden Angeboten als besonders hilfreich, kompetenzerweiternd oder entlastend erlebt wurde, können die Eltern am besten selbst beantworten. Wenn sie Angebote aus unbekannten Gründen nicht wahrnehmen, weil sie vorher nicht gefragt wurden, erzeugt das auch Frustration bei den Fachkräften. Dies alles sind Gründe, die aus meiner Sicht für Elternpartizipation sprechen.
Was genau bedeutet Partizipation?
Von Partizipation kann man immer dann sprechen, wenn Eltern durch das Einbringen ihrer Sichtweisen, ihrer Erfahrungen, Kompetenzen und Ideen die bisherigen Planungen, Umsetzung und Weiterentwicklung der Frühen Hilfen verändern. Dabei können neue Angebotsformate entstehen, die den Fachkräften ohne den lebensweltlichen Perspektivwechsel gar nicht gelungen wären.
Was zeichnet eine partizipative Haltung aus?
Erstmal erfordern partizipative Prozesse die Bereitschaft, aufmerksam und offen auf die Zielgruppe zuzugehen und genau hinzuhören, was den Menschen wirklich wichtig ist oder was ihnen fehlt. Das klingt banal, aber in der Praxis höre ich immer wieder, dass dafür die Zeit fehlt.
Partizipation funktioniert nur, wenn die Gespräche mit den Eltern ergebnisoffen geführt werden, wenn nicht doch schon das fertige Konzept in der Schublade liegt, das nur bestätigt werden soll. Fachkräfte, die gerne partizipativ arbeiten, berichten, dass durch die Zusammenarbeit mit den Eltern Angebote entstanden sind, die bei den Familien besonders gut ankommen und auf die bisher keiner gekommen ist. Es sind zum Beispiel sehr kreative Formen von Peer-Beratung entstanden, mit denen sich die Eltern wirklich identifizieren können, etwa zu bestimmten Erziehungs- und Alltagsthemen, die spezielle Herausforderungen in der Lebensphase mit kleinen Kindern betreffen. Oft kommen die Tipps erfahrener Eltern sehr verständlich und authentisch herüber, machen Hoffnung und können gut angenommen werden.
Zur Reflexion der Haltungen der Fachkräfte sind folgende Fragen zentral: Gehen die Fachkräfte davon aus, dass Eltern bei der Erziehung ihres Kindes ihr Bestes geben und in der Lage sind, sich weiterzuentwickeln? Das ist eine grundlegend notwendige innere Haltung. Erkennen Fachkräfte die Eltern in ihrer Selbstbestimmung und ihren Eigenheiten an und trauen sie den Eltern auch etwas zu? Sehen sie die Eltern als Partner, von und mit denen sie selbst etwas lernen können?
Wichtig ist auch die familienpolitische Dimension: Gehen Fachkräfte davon aus, dass Eltern mitgestalten wollen und unterstützen sie die Eltern dabei, im kommunalpolitischen Raum auch gehört zu werden? Gehen sie davon aus, dass Eltern aktiv daran mitwirken wollen, dass sich die lokalen Lebensbedingungen für Familien verbessern? Eltern sollten nicht nur in ihrer akuten Befindlichkeit angesprochen werden, sondern es sollten in den zentralen Institutionen auf struktureller Ebene verbindliche Beteiligungsmöglichkeiten implementiert werden.
Wie kann sichergestellt werden, dass auch schwer erreichbare Eltern gehört werden?
Der Aufwand kann bei Eltern, zu denen etwa Kommunikationshindernisse bestehen, hoch sein. Aber auch diese Eltern wollen sich individuell, zum Beispiel in einer Krabbelgruppe oder im Elterncafé, äußern. Das hat immer auch eine politische Komponente und ist zugleich immer auch eine Energie- und Ressourcenfrage. Zentral aber ist, die schon angesprochene Offenheit herzustellen, Mut zu haben, Neugier zu zeigen und zu signalisieren: Wir interessieren uns für euch und eure Anliegen.
Ich würde auch zu mehr Kreativität ermutigen wollen, etwa die Frage der Zielgruppe nicht zu eng zu fassen. Wenn die Eltern mit sehr kleinen Kindern zu sehr eingespannt sind, könnte man auch andere Verwandte heranziehen, die vielleicht mehr Kapazitäten haben. Eltern in sehr belasteten Situationen haben vielleicht keine Energie für Partizipation. Das ist verständlich, wir haben alle nur ein begrenztes Maß an Energie. Man könnte also nach stellvertretenden Fürsprechern suchen. Eltern, die schwierige Phasen überwunden haben, könnten retrospektiv wichtige Hinweise geben, was ihnen geholfen hatte, um gestärkt aus diesen Krisenzeiten hervorzugehen.
Welche Weichenstellungen müssen in den Institutionen erfolgen?
Sehr wichtig ist zu sehen: Partizipation ist kein Selbstläufer. Sie erfordert definitiv die Rückendeckung auf Leitungsebene. Dazu gehört, dass Mittel für die Weiterbildung der Fachkräfte bereitgestellt werden. Die Kompetenzen, die für Elternpartizipation gebraucht werden, fallen nicht vom Himmel, die muss man sich aneignen. Die Leitungskräfte sollten den Fachkräften außerdem klar definierte Gestaltungsspielräume und eigene Kompetenzbereiche zugestehen, in denen sie selbst Neues erproben und Erfahrungen machen können, was Partizipation betrifft.
Der nächste Punkt ist, dass Partizipation auf kollegialer Ebene einen Konsens erfordert, dass alle daran gemeinsam arbeiten wollen und sich ein Teamgeist zu dem Thema entwickelt. Dafür müssen zeitliche, finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, weil das sonst gar nicht angemessen und fachlich fundiert umgesetzt werden kann. Partizipation kostet Zeit und Geld.
Damit Partizipation als Gewinn und nicht als Störfaktor wahrgenommen wird, muss in einem angemessenen Tempo eine tragfähige Partizipationskultur aufgebaut werden. Die soll dazu führen, dass allen klar ist, warum Partizipation wichtig ist und dass die damit verknüpften komplexen Anforderungen und ambitionierten Ziele auch mit den Rahmenbedingungen der Arbeit zusammenpassen müssen. Man kann sich tolle Ziele ausdenken, aber wenn zum Beispiel die Arbeitsbelastung sehr groß ist, reiben sich die einzelnen Fachkräfte daran auf.
Welche Herausforderungen sehen Sie für die Netzwerkarbeit?
Alle innerhalb des Netzwerks müssen bereit sein, Zeit und Energie zu investieren, müssen die Bereitschaft zur Selbstreflexion mitbringen und einen langen Atem haben, das aufzubauen. Partizipation erfordert auch einen gewissen Pioniergeist und die Bereitschaft, bisherige Routinen infrage zu stellen, damit überhaupt ein Raum für neue Ideen generiert werden kann.
Partizipation erfordert auch ein klares Commitment des Netzwerks, damit sich die Akteure die Frage beantworten können: "Warum ist uns hier vor Ort Partizipation wichtig?" Wenn das klar ist, trägt das auch durch schwierigere Phasen.
Die Netzwerkarbeit ist allerdings bereits ohne den partizipativen Ansatz schon extrem anspruchsvoll. Er muss ja bei laufendem Kerngeschäft entwickelt werden, und das auch noch interprofessionell und sektorenübergreifend. Das ist ein riesiger Anspruch. Eine wichtige Aufgabe hat dabei die Netzwerkkoordination: Wie kann sie die Teambildung hinsichtlich Partizipation gezielt unterstützen? Welche Orte der Begegnung können geschaffen werden, damit sich eine neue Kultur der Zusammenarbeit etabliert? Aktuell befinden sich Erfolgsmodelle, wie partizipative Netzwerkarbeit interprofessionell und sektorenübergreifend gut gelingen kann, noch im Aufbau. Das ist echte Pionierarbeit, die da geleistet wird.