Gemeinsamkeiten betonen und Unterschiede respektieren
Ein Gespräch mit der Sozialpädagogin Pilar Wulff, die seit acht Jahren das Netzwerk Frühe Hilfen in Dortmund koordiniert, das sich über 12 Stadtbezirke erstreckt. Zuvor war sie 32 Jahre im Bereich Kindertageseinrichtungen/Familienzentren als Leiterin tätig. Im Frühjahr 2016 berichtet sie dem NZFH für den Infodienst "Bundesinitiative Frühe Hilfen aktuell" von ihren Erfahrungen aus der Netzwerkarbeit.
Frau Wulff, wie definieren Sie den Erfolg Ihrer Netzwerkarbeit in den Frühen Hilfen?
Den Erfolg messe ich daran, dass Ziele erreicht wurden, die wir seit dem Bestehen des Netzwerkes vor acht Jahren gemeinsam definiert haben. Das damalige Ziel – und das hat sich bis heute nicht verändert – war es, Familien in Problemlagen optimal helfen zu können. Und das bedeutet nicht, dass ich als Person oder Institution die direkt Helfende sein muss, sondern dass ich, wenn ich nicht unterstützen kann, weiterleite zu jemandem, der in dem speziellen Fall helfen kann. Familien müssen wissen, wo sie Unterstützung und Begleitung erhalten, wenn sie dies denn möchten. Und das haben wir geschafft. Es gibt ein Netz aus sich wertschätzenden, motivierten Fachkräften mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Kompetenzen, die es sich zum Ziel gemacht haben, gemeinsam – und nicht parallel und schon gar nicht konkurrierend – zu handeln, um Familien mit den Frühen Hilfen zu erreichen.
Beschreiben Sie uns bitte kurz den Arbeitsaufwand, der für eine gute Netzwerkkoordination notwendig ist?
Jede Handlung, die ich in meinem Arbeitsfeld beginne und ausführe, ist auf Netzwerkarbeit ausgerichtet. Als Koordinatorin der Frühen Hilfen bin ich eine Netzwerkerin oder Brückenbauerin, kontinuierlich und für alle Akteure, also acht Stunden am Tag, mit wenigen Unterbrechungen für Verwaltungsarbeiten oder Schreibtischaktivitäten.
Mal ist es einfach und die Akteure sind motiviert und bringen sich aktiv mit ein, und dann wieder ist es zeitaufwendig und es müssen viele Gespräche geführt werden, um sich gegenseitig kennenzulernen und die jeweils andere Position verstehen und annehmen zu können. Es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen und Stillstand auch mal zuzulassen. Das Netzwerk besteht aus einer Vielzahl von heterogenen Akteuren, die sich im Rahmen der Frühen Hilfen in einem kontinuierlichen Aushandlungs- und Erbringungsprozess befinden, der vielen externen und internen Einflüssen ausgesetzt ist. In welchem Kontext diese Prozesse auch immer entstehen – das Erleben der Beteiligten, ihre Motivationen und Wünsche stehen oft in Diskrepanz zu den internen und externen fachlichen Anforderungen, die demzufolge kontinuierlich kommuniziert werden müssen; dies erfordert Zeit und Geduld. Und ich als Netzwerkkoordinierende bin die einzige Fachkraft, die für Netzwerkarbeit bezahlt wird. Bei allen anderen Fachkräften steht Netzwerkarbeit nicht in der Stellenbeschreibung. Das heißt für mich zu respektieren, dass Kooperationspartner nicht immer verfügbar sind und ich gegebenenfalls auch wiederholt den Kontakt herstellen und akzeptieren muss, dass Fachkräfte in Organisationen tätig sind, die individuelle Organisationskulturen haben. Darauf muss ich als Netzwerkkoordinierende entsprechend Rücksicht nehmen und adäquat mit der vorhandenen Heterogenität umgehen. Dass erfordert mal mehr und mal weniger Zeit.
Was funktioniert gut und was ist schwierig?
Hervorragend funktioniert das aufeinander abgestimmte Hilfesystem mit gemeinsam entwickelten Handlungsstrategien und vielen kreativen Akteuren. Dies zeigt sich in vielen Facetten und Maßnahmen, aber insbesondere in der Zusammenarbeit mit den freiberuflichen Hebammen, die anfänglich als Kooperationspartnerinnen eine große Herausforderung darstellten. Dies erklärt sich durch ihre ehemals freiberufliche Tätigkeit, ohne kommunale Vernetzung oder andere Kooperationsbezüge. Da Hebammen auch nicht alle organisiert sind, stellt die Erreichbarkeit eine große Hürde dar. Nachdem dieser erste Schritt erfolgt war, war es notwendig uns darüber auszutauschen, welchen Gewinn sie durch eine Kooperation mit den Akteuren der Frühen Hilfen hätten. Dies war ein monatelanger Prozess. Schwierig bleibt es, wenn vereinzelte Fachkräfte zuständigkeitsorientierte, eindimensionale Perspektiven beibehalten und Netzwerkarbeit als Mehrbelastung gesehen wird. Dies erschwert die Zusammenarbeit und verhindert, nein, verzögert es, gemeinsame Aufgaben und Herausforderungen kooperativ zu bewältigen. Und natürlich: Die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten ist immer wieder eine Herausforderung, aber dabei sind wir auf einem guten Weg.
Und wie geht das Netzwerk mit diesen Herausforderungen um?
Eine wertschätzende Haltung und gegenseitiger Respekt sind wichtig. Oft braucht es auch Geduld und das Verständnis, dass Veränderungen Zeit brauchen. Diese Zeit geben wir uns und anderen. Hilfreich ist es dabei, dass sich das Netzwerk ziemlich schnell eine gleichberechtigte Geschäftsführung gegeben hat, bestehend aus jeweils einer Fachkraft aus dem Gesundheitsamt, der Bildungsstätte, dem Kinderschutzbund, dem Klinikum und dem Jugendamt (Koordination Frühe Hilfen). Diese interdisziplinär aufgestellte Geschäftsführung lässt die Herausforderungen leichter bewältigen. Es entsteht eine Verantwortungsgemeinschaft, die es ermöglicht, unterschiedliche Sichtweisen zu benennen, zu verstehen, zu akzeptieren und manchmal auch zu „ertragen“.
Was haben die Frühen Hilfen in Ihrer Stadt verändert?
Schwierige Frage, ich glaube diese Frage müsste man den Familien stellen. Aus meiner Sicht gibt es jetzt ein „Mehr“ an Miteinander und ein „Weniger“ an Konkurrenz und Parallelstrukturen. Wir müssen die vielfältigen Aufgaben nicht mehr allein bewältigen, sondern gemeinsam bilden wir ein Hilfesystem mit einem Schatz an Ressourcen, die wir alle in unterschiedlichem Maße nutzen können. Dazu kommt, dass die einzelnen Akteure, geprägt durch die gute Zusammenarbeit im Netzwerk, einen subjektiven Einfluss auf ihr eigenes Handlungsfeld haben und Normen und Werte organisationsintern persönlich mit beeinflussen können. Die daraus entstandene Verantwortungsgemeinschaft wiederum hat einen positiven Einfluss auf das Hilfesystem für Familien.
Ist das Netzwerk Frühe Hilfen in Ihrer Stadt mit dem weiteren Umfeld verknüpft?
Das Netzwerk Frühe Hilfen ist ein Teilbereich eines kommunalen Gesamtkonzeptes. Jede Maßnahme, jedes Angebot, das neu initiiert und umgesetzt wird, wird mit allen beteiligten Gremien und anderen Netzwerken besprochen und gegebenenfalls modifiziert. Alle Maßnahmen werden in einem abgestimmten Verfahren umgesetzt. So starten neue Maßnahmen und Projekte in Abstimmung mit allen beteiligten Fachkräften, wie z.B. „Kein Kind zurück lassen“ oder den sozialräumlichen Akteuren. In Dortmund sind es unter anderem die 12 Bezirksteams aus den unterschiedlichen Bezirken, bestehend aus Fachkräften der Jugendförderung, Beratungsstellen, Tageseinrichtungen für Kinder, Familienbüros und dem ASD.
Wie kommen Sie zu einer bedarfsgerechten Planung für Familien?
Zum einen erfolgt die Bedarfsplanung durch die gesamtstädtische Jugendhilfeplanung, die dezentral in allen 12 Stadtbezirken stattfindet und zentral zusammengeführt wird. Darüber hinaus erfolgt eine Bedarfsplanung in fachlich orientierten Planungsprozessen wie z.B. Jugendhilfe 2010, Kinder- und Jugendförderplan u.a.
Die sozialräumliche Jugendhilfeplanung in Dortmund hat sich in Bezug auf die Frühen Hilfen allerdings weiterentwickelt, und zwar hin zu sozialräumlich orientierten Handlungsansätzen: von der Intervention zur Infrastruktur, von der Reaktion zur Aktion, von der Einzelfallorientierung zur Lebensweltorientierung, von der Spezialisierung zur quartiersbezogenen Integration, von der professionellen Fremdhilfe zur Stärkung der Selbsthilfe, immer im Sinne von Prävention und Gesundheitsförderung. Ziel ist es, Familien im Vorfeld an der Gestaltung von Hilfen teilhaben zu lassen.
Bedarfe werden bei den Familien auch durch die Willkommensbesuche und durch Fragebögen zu den unterschiedlichen Themen ermittelt, wie z.B. Inanspruchnahme von Hebammenleistungen, Zufriedenheit mit den sozialräumlichen Angeboten und anderen Leistungen der Frühen Hilfen.
Wo sehen Sie Entwicklungsbedarf?
Wir erreichen noch nicht alle Eltern. Es fehlen uns noch Methoden, um Familien zu beteiligen. Dortmund ist eine Großstadt mit knapp 600.000 Einwohnern. Wo fängt man da an und wie erreichen wir so viele Familien, dass wir die realen Bedarfe erfassen? Das meine ich über die eigentliche Jugendhilfeplanung hinaus. Da müssen wir noch kreativer werden. Wir hatten z.B. letzte Woche ein Treffen, um die Arbeit mit und für Väter in unserer Stadt auszubauen und zu optimieren. Es waren engagierte Väter anwesend, aber es waren ca. 70% Frauen beteiligt und 80% Fachkräfte. Da heißt es noch nachzubessern und sich Methoden zur Beteiligung anzueignen, die innovativ und erfolgsversprechend sind.
Was fällt Ihnen zu dem Stichwort „Belastungen“ ein? Wie gehen Sie damit um?
Belastungen sind wie gesagt leichter zu ertragen, wenn sie auf mehreren Schultern verteilt sind. Wenn ich an unsere Netzwerktreffen denke, so ist es sehr entlastend zu wissen, dass sich die Verantwortung geändert hat. Innerhalb der Geschäftsführung haben wir die Aufgaben verteilt, wie z.B. Moderation, Protokoll etc. – früher habe ich alles in Personalunion durchgeführt. Nun muss ich mir keine Gedanken machen, ob ich es schaffe, ein Protokoll zeitnah verschickt zu bekommen, das erledigt eine Kollegin aus dem Gesundheitsamt, die das gerne macht. So nutzen wir die unterschiedlichen Stärken und Kompetenzen der einzelnen Beteiligten. Die Belastungen und die Aufgaben wachsen und nehmen an Heterogenität zu. Aber das ist wie gesagt Arbeitsalltag; und durch die guten Kooperationen innerhalb der Kommune und auch darüber hinaus (Kooperationen mit Netzwerkkoordinierenden aus anderen Kommunen) werden die Belastungen verteilt – das macht es einfacher.
Was tun Sie, um die Qualität der Zusammenarbeit und der Angebotsstruktur zu sichern?
Qualitätssicherung ist aktuell ein großes Thema im Netzwerk. In Sachen Zusammenarbeit nutzen wir zum einen Fragebögen, um die Zufriedenheit mit den Netzwerktreffen abzufragen, zum anderen haben wir regelmäßige Qualitätszirkel mit unterschiedlichen Netzwerkteilnehmenden, wie z.B. Familienhebammen, Hebammen, Fachkräften der ambulanten Jugendhilfe etc. Zur Optimierung und Verbesserung der Zusammenarbeit haben wir einen Leitfaden entwickelt, der wiederum Anlass dafür war, einen Qualitätszirkel zu initiieren. Qualitätsentwicklung ist in einer so großen Kommune jedoch sehr komplex und vielschichtig.
Die Qualitätssicherung der Angebotsstruktur möchte ich an einem Beispiel beschreiben. Wir bieten den Tageseinrichtungen für Kinder (TEK) und Familienzentren (FZ) eine Palette von Angeboten im Rahmen der Prävention und Gesundheitsförderung an. Sie beinhaltet zurzeit 16 Präventionsangebote. Als wir in 2014 gestartet sind, hatten wir 11 Angebote. Wir treffen uns einmal im Jahr mit allen interessierten Tageseinrichtungen im Rathaus. Es kommen ca. 80 von 295 TEK/FZ und wir reflektieren gemeinsam die Angebote. Dies hat im ersten Durchgang dazu geführt, dass wir darauf aufmerksam gemacht wurden, dass Angebote im Bereich der Bewegung und Ernährung fehlten. Die haben wir ergänzt. Dann wurden auch das Verfahren und die Angebotsinhalte reflektiert und verändert. Das ist für mich Qualitätssicherung. Es gibt noch viele Maßnahmen, die wir zur Qualitätssicherung initiieren, jedoch würde deren Aufzählung den Rahmen des Interviews sprengen. Wichtig ist es jedoch, die eigene Arbeit immer wieder zu reflektieren und wenn möglich einen externen wissenschaftlichen Blick darauf zu ermöglichen. Evaluationen sind dabei eine gute Methode.
Wie schätzen Sie die Nachhaltigkeit der Arbeit mit belasteten Familien ein?
Um die Nachhaltigkeit zu überprüfen und valide Aussagen dazu treffen zu können, müssen wir uns mehr Zeit geben. Aktuell meine ich zu erkennen, dass das Handlungsfeld der Sozialen Arbeit sich verändert, weiterentwickelt, zum Teil auch bedingt dadurch, dass Familienhebammen neue Zugänge zu Familien eröffnen und Fachkräfte der Jugendhilfe diesen Zugang auch für sich entdecken. Ich denke, dass wir durch das Bundeskinderschutzgesetz, insbesondere Artikel 1 und KKG §1 bis §4, einen bedeutsamen Durchbruch erzielt haben, was die präventive Arbeit betrifft. Prävention wird dadurch zur Chefsache und wird nicht mehr zweitrangig betrachtet.
Dies erleichtert es, Angebote und Maßnahmen langfristig zu sichern und damit Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Es schafft Planungssicherheit bei den freien Trägern und bietet dadurch den Eltern eine gute Perspektive.
Natürlich müssen wir auch weiter an unserer (dialogischen) Haltung arbeiten und Fachkräfte dazu kontinuierlich qualifizieren. Darüber hinaus müssen wir Familien mit ihren Bedarfen bewusst wahrnehmen und sie bereits in die Entwicklung, Gestaltung und Umsetzung von Angeboten und Maßnahmen einbinden – dies ist und bleibt eine Herausforderung. Wenn wir aber Nachhaltigkeit anstreben, sollten wir neue Wege gehen und Familien als Experten in eigener Sache betrachten.
Welche neuen Anforderungen sehen Sie durch die Zuwanderung von Flüchtlingen?
Es ist eine neue Zielgruppe, die in unserer Kommune dazu gekommen ist. Ich weigere mich, die Zielgruppen zu differenzieren und spreche selbst von zugewanderten und geflüchteten Familien. Jede dieser Familien hat einen eigenständig formulierten Hilfe- und Unterstützungsbedarf, der abzufragen ist und den wir gemeinsam bedienen müssen. Es ist jedoch nicht die Besonderheit der Problematik, sondern die zusätzliche Zahl der Familien, die wir begleiten, die eine Herausforderung darstellt. Besonderheiten haben alle Familien in jeder Kommune. Es liegt an uns, ein Hilfesystem zu entwickeln, das die Bedarfe der Familien erfasst und es uns erlaubt, adäquate Hilfen zu installieren. Wir brauchen eine gut aufgestellte Infrastruktur, die es uns mit wenig Aufwand ermöglicht, angemessene Hilfen zu entwickeln und umzusetzen.
Der erhöhte Bedarf entsteht durch die erhöhte Zahl an Familien, die in keiner Bedarfsplanung berücksichtigt wurde. Dafür benötigen wir finanzielle Unterstützung. Mehr Arbeit – mehr Personal – mehr Kosten. Den Rest, die individuelle Ausgestaltung der Hilfen, übernehmen schon die Fachkräfte in Kooperation mit den Familien, die beide über ein hohes Kreativitätspotenzial verfügen, wie wir tagtäglich erleben.
Wo sehen Sie die Frühen Hilfen in zehn Jahren?
In zehn Jahren, hoffentlich schon eher, werden Familien die Angebote und Maßnahmen der Frühen Hilfen genauso selbstverständlich einfordern wie heute einen Betreuungsplatz in einer Tageseinrichtung. Wir werden eine Infrastruktur entwickelt haben, wo Familien „nicht-stigmatisierend“ um Hilfen anfragen, diese sogar fordern. Wir werden ein Hilfesystem mit ausreichender finanzieller Ausstattung haben, in dem Individualität, Kreativität und eine dialogische, wertschätzende Haltung zur Normalität geworden ist. Dann werden Herausforderungen leicht zu bewältigen sein.
Was verbinden Sie mit dem Begriff Wertschätzung?
Im Rahmen meiner Koordinierungstätigkeit bedeutet Wertschätzung für mich:
- Die Bereitschaft, dem anderen eine gute Absicht zu unterstellen
- Mut zu haben, sich neuen Erfahrungen zu stellen, insbesondere in der Zusammenarbeit mit anderen Professionen und Organisationen
- Gemeinsamkeiten zu betonen und Unterschiede zu respektieren
- Toleranz, Offenheit, Kompromissfähigkeit in der alltäglichen Arbeit
- Gegenseitige Akzeptanz und Unterstützung
- Geduld zu haben und positive Veränderungen wahrzunehmen
- Zeit zu haben und zu geben
- Sich nicht entmutigen zu lassen, wenn einmal doch wieder alles so ist wie immer, und wieder von vorne beginnen – mein Gegenüber wird schon einen Grund haben, warum es so ist