Geduld und Augenmaß bei den Frühen Hilfen
Ein Gespräch mit Prof. Dr. Ute Thyen, Kinderärztin an der Klinik für Kinder und Jugendmedizin der Universität Lübeck, Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums für Kinder und Jugendmedizin und Vorsitzende des Beirates des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen. Das gesamte Gespräch liegt hier auch als Video vor. Eine Kurzfassung ist Ende des Jahres 2014 im Infodienst "Bundesinitiative Frühe Hilfen aktuell" erschienen.
Frau Professor Thyen, warum engagieren Sie sich als Beiratsvorsitzende des NZFH für die Frühen Hilfen?
"Die Frühen Hilfen an sich sind für mich eine Herzensangelegenheit. Ich freue mich darüber, dass junge Familien Unterstützung bekommen, dass die Hilfen maßgeschneidert angeboten werden und die Familien gestärkt werden können. Eine Herzensangelegenheit ist mir aber darüber hinaus, dass dieser Gedanke der Frühen Hilfen auch in die Institutionen hineingetragen wird."
Welche Schwerpunkte setzt sich der Beirat aktuell?
"Im Beirat bearbeiten wir zurzeit vordringlich Fragen der Qualitätssicherung, des Qualitätsrahmens, der Anforderungen an die Fachkräfte und der Möglichkeiten der wissenschaftlichen Evaluation. Darüber hinaus sehen wir aber die Notwendigkeit, uns einem Leitbild zu widmen: Was sind die Frühen Hilfen eigentlich, welches Menschenbild steckt dahinter? Und wie wollen wir gern, dass Familien in unserer Gesellschaft leben können? All diese Themen sind abgebildet in einzelnen Arbeitsgruppen, die natürlich ihre Ergebnisse immer wieder in den Beirat zurück tragen."
Wie setzt sich der Beirat zusammen, wie arbeitet er?
"Im Beirat sind Leute aus der Fachwelt vertreten, aus Praxis und Wissenschaft. Die Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis gelingt immer dort, wo man sich verstehen lernt, wo man miteinander ins Gespräch kommt, wo die Wissenschaft die Möglichkeit hat, von der Praxis zu lernen, denn von dort kommen die wichtigen Fragen."
Was bedeuten Ihnen als Kinderärztin die Frühen Hilfen?
"In meinem Berufsalltag kommen die Frühen Hilfen wie gerufen. Ich bin ja schon lange als Kinder- und Jugendärztin tätig. Im sozialpädiatrischen Zentrum, aber auch auf der Früh- und Neugeborenen-Station oder der Kleinkinderstation haben wir doch sehr häufig Familien angetroffen, wo man denkt, dieser Bedarf geht weit über das hinaus, was man als Arzt oder Ärztin leisten kann. Wir hatten aber wenige Stellen, wo wir Familien mit erhöhtem Bedarf und mit sehr jungen Kindern hinschicken konnten, wir wollten ja präventiv helfen."
Wie können Sie in Ihrer täglichen Praxis das Anliegen der Frühen Hilfen unterstützen?
"Kinderärztinnen und -ärzte sind sehr wichtige Personen im System Frühe Hilfen, weil sie im Grunde die einzigen sind, die ein Kind außerhalb der Familie regelmäßig sehen. In den Früherkennungsuntersuchungen werden die Kinder im ersten Lebensjahr sechsmal gesehen, d.h. es besteht ein sehr häufiger Kontakt, und wir haben nun auch die Aufgabe, den Hilfebedarf zu erkennen und überzuleiten in entsprechende Angebote. Die Netzwerkbildung und Kooperation in der Praxis draußen braucht viel Zeit. Im Grunde ist es ein nachhaltiger Prozess, der hier geplant werden und bereits in der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten und z.B. von Hebammen berücksichtig werden muss. Die Netzwerke vor Ort müssen sich bilden und vertrauensvolle Arbeit einüben, d.h. jede Art von Druck im System, jetzt schnell viel zu erreichen, kann auch dazu führen, dass die Systeme überlastet werden. Insofern bitte ich alle um Geduld und Augenmaß bei der weiteren Planung der Frühen Hilfen."