Wir müssen handeln!
Ein Gespräch mit Ulrike Geppert-Orthofer und Dr. Wolf Michael Lütje. Ausschnitte des Gesprächs sind im Juli 2021 im Infodienst FRÜHE HILFEN aktuell erschienen.
Ulrike Geppert-Orthofer, Hebamme, ist seit 2017 Präsidentin des Deutschen Hebammenverbands (DHV), davor seit 2013 akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Gesundheitsmanagement und Marketing an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Dr. Wolf Michael Lütje ist seit 2012 Chefarzt der Frauenklinik am Ev. Amalie-Sieveking-Krankenhaus in Hamburg-Volksdorf, seit 2013 Präsident der Deutschen Gesellschaft für psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG). Er ist Mitglied des NZFH-Beirats.
Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die Geburtshilfe?
Lütje: Wir haben ohnehin ein Betreuungsproblem im Kreißsaal, das durch Corona noch katalysiert wird. Die aufwendigen Hygienemaßnahmen schränken die Möglichkeiten einer 1:1 Betreuung, den Goldstandard, noch weiter ein. In meiner Klinik, die sehr betreuungsintensiv arbeitet, haben wir jetzt bei drohender Überfüllung vorübergehende Kreißsaalschließungen vereinbart, weil wir mehr leisten müssen.
Viele Geburtskliniken haben sich in der Krise früh entschieden, mehr Kaiserschnitte zu machen, weil es kontrollierbarer war. Gleichzeitig sinkt bei manchen Frauen die Motivation für eine physiologische Geburt. Sie fragen sich: Warum soll ich mich jetzt, wo ich so belastet bin, auch noch mit einer großen Geburt rumschlagen? Es gibt einen Trend zur Sectio.
Der nächste Punkt lässt sich mit „Energie“ fassen: Die häufigste Indikation in meiner Klinik für einen Kaiserschnitt ist die sogenannte Haltungs-/Einstellungsanomalie oder ein Geburtsstillstand nach langer erschöpfender Geburt. Die Frauen gehen in einem energetisch schlechten Zustand in die Geburten hinein, übrigens auch körperlich. Geburt ist ein Marathon. Die Frauen müssen fit sein. Wir brauchen derzeit mehr PDA, mehr Wehenmittel, es kommt öfter zu Interventionen.
Geppert-Orthofer: Das mit der Energie kann ich nur unterstreichen. Ich glaube nicht, dass die Frauen eine aktive Entscheidung für oder gegen die physiologische Geburt treffen. Es passiert einfach. Es gibt eine große Verunsicherung. Werte, mit denen wir groß geworden sind, können wir aktuell nicht leben. Der Unterschied zwischen Corona und anderen Katastrophen ist ja tatsächlich, dass die Gefahr aus dem unmittelbaren, engen Freundeskreis kommen kann. Das verändert unser Verhalten in Extremsituationen und eine Geburt ist eine Extremsituation.
Lütje: Dann ist da die emotionale Seite. Ängste nehmen zu, konzentrieren sich auf Themen rund um die Geburt und werden mit unserer risikoorientieren Schwangerschaftsbegleitung und geburtshilflichen Ausrichtung befördert. Studien zu psychischen Belastungen, Resilienz und protektiven Faktoren während der Sars CoV 2-Pandemie weisen auf eine Steigerung depressiv-ängstlicher und posttraumatischer Belastungssymptomatik hin. Das gilt sicherlich auch für Schwangere.
Geppert-Orthofer: Man muss die Zeit der Schwangerschaft nutzen, um eine gute Haltung zu entwickeln. Geburten sind physiologische Prozesse, die als Stärkung für die Familie erlebt werden können. Wie wir geboren werden hat großen Einfluss darauf, wie sich Familie gestaltet. Corona hat dafür die Zeit geraubt und andere Themen gesetzt. Jetzt wird es noch viel deutlicher, dass die Geburtshilfe nicht die gesellschaftliche Bedeutung hat, die sie dringend braucht. Zum Beispiel hatten Hebammen zu Beginn der Pandemie keinen Zugang zur Kindernotbetreuung, wurden zunächst bei der Testverordnung und bei der Impfverordnung vergessen. Auch in der neueren Testverordnung waren wir die einzige Berufsgruppe im Gesundheitswesen, die sich nicht selbst testen darf.
Welche Auswirkungen hat Corona auf vulnerable Familien, die ein Baby erwarten?
Geppert-Orthofer: Familien mit belastenden Lebenssituationen sind auf einem niedrigeren energetischen Level in die Krise gegangen. Ihnen fehlen die Ressourcen, schwierige Situationen zu händeln. Corona potenziert die Defizite. Kleine Wohnungen sind mit Kindern ein Problem. Das trifft Familien in einer sozialökonomisch schwierigen Situation deutlich stärker. Vorbereitungskurse kann man von der analogen in die digitale Welt verlegen, wenn man die technischen Voraussetzungen hat, aber gerade vulnerable Familien haben nicht immer die Möglichkeit, an digitalen Angeboten teilzunehmen. Zusätzlich braucht es andere didaktische Konzepte. Kompensationsmechanismen sind deutlich reduziert und auch Informationen und Hilfsangebote erreichen diese Familien deutlich weniger als andere.
Lütje: Ich kann das alles unterstreichen. Ganz praktisch: Unser Babylotsensystem in Hamburg ist in der ersten und zweiten Welle komplett weggebrochen. Da durfte niemand ins Haus kommen. Ich will nicht wissen, was da alles auf der Strecke geblieben ist. Jetzt, wo die Babylotsinnen wiederkommen, stellen wir gerade bei den vulnerablen Gruppen gestiegene Bedarfe fest.
Welche Maßnahmen können die Situation kurzfristig verbessern?
Lütje: Wichtig sind Maßnahmen zur Stärkung von psychischer Gesundheit. Bei der Entwicklung sollten vulnerable Gruppen besonders berücksichtigt werden. Psychologische Interventionen sollten insbesondere Möglichkeiten des sozialen Rückhalts und der Selbstwirksamkeit fördern. Wir sollten mediale Angebote zur Psychoedukation anbieten. Bei der Untersuchung langfristiger Auswirkungen sollte Resilienz, im Sinne positiver Entwicklungsverläufe, stärker in den Vordergrund rücken. Das sind die Grundthemen, die wir für die physiologische Geburt brauchen. Frauen, die hier stark sind, kommen besser durch die Geburt.
Geppert-Orthofer: Wir müssen Anstrengungen unternehmen, um existierenden Angebote flächendeckend zu öffnen. Familienzentren müssen einfach durch gute Hygienekonzepte erreichbar sein. Dafür brauchen wir genügend Tests und genügend Impfstoffe.
Was sollte sich langfristig verändern?
Lütje: Hebammen gehören in die gesamte Geburtsvorbereitung, Geburtsbegleitung, in die Schwangerschaftsvorsorge. Das ist auch ein Schlüssel für mich, nicht nur in Corona, sondern grundsätzlich. Bei den Hebammen merkt man deutlich, dass sie sich in diesen Klinikkonzepten nicht mehr zuhause fühlen und jetzt den Markt der Möglichkeiten in der außerklinischen Arbeit nutzen. Das ist die Antwort darauf, dass die Bedingungen so schlecht waren und sich unter Corona weiter verschlechtert haben. Wir werden ein dickes Personalproblem bekommen, übrigens auch im ärztlichen Bereich. Was es uns sehr schwer macht, die hohen Gesundheitsziele umzusetzen.
Geppert-Orthofer: Das sehe ich auch so. Zu Beginn der Pandemie konnte man die Hoffnung haben, jetzt wird erkannt, was uns als Gesellschaft ausmacht. Ich war überzeugt, dass es nach Corona keine Rückkehr zur alten Normalität geben wird. Das glaube ich immer noch. Aber ich denke, dies beruht nicht auf der Erkenntnis, dass wir unsere Werte überdenken müssen, sondern es kommt aus der Not. Ich stelle fest, dass sowohl bei den Frauen als auch bei den Hebammen ein Erschöpfungszustand besteht. Die Spaltung der Gesellschaft nimmt zu. Das hat weniger etwas mit der Geburtshilfe zu tun, aber wir merken das.
Wir wissen, dass vulnerable Gruppen diese Geburtsvorbereitung nicht so intensiv wahrnehmen. Eine Teenager-Schwangere fühlt sich in einer Gruppe eher spät gebärender Akademikerinnen nicht wohl. Frauen in prekärer finanzieller Situation möchten nicht mit gut situierten Frauen ihre Probleme teilen. Wir benötigen mehr spezielle Angebote.
Lütje: Und der Peer-Gedanke, dass Leute aus der eigenen Lebenswelt mit betreuen, muss noch viel stärker ausgebaut werden. Was wir in der Regelversorgung bieten, reicht nicht für alle. Personalisiertes Geburts-Coaching kann man auch per Telefon und Video machen. Auch die Psychotherapie ist ein absolut gutes Tool. Ich habe festgestellt, dass ich in einer Online-Therapie viel besser Körpersprachliches wahrnehmen kann. Das kann man auch wunderbar mit vulnerablen Gruppen machen. Sehr junge Mütter kann man über Social Media vielleicht sogar besser erreichen. In die Richtung muss gedacht werden.
Allerdings ersetzt das nichts, was wir an Unmittelbarkeit haben: Wir brauchen viele Hebammen, wir brauchen eine bessere Versorgung der Latenzphase, längere Betreuungszeit zuhause. Wir haben jetzt in der Corona-Zeit mehr Mütter, die zu früh in die Klinik kommen, und die wir nicht wie früher nochmal nachhause schicken können wegen der notwendigen Testungen. Corona hat an der Art und Weise des Umgangs gerade mit schwierigen Geburten viel Negatives gebracht. Das wird nicht die letzte Pandemie sein, wir werden das weiterdenken müssen. Corona ist Teil, aber auch die Lösung vieler globaler Probleme, und die müssen wir für die Geburtshilfe eben auch nutzen.
Geppert-Orthofer: Ich teile die Ansicht, dass wir mit digitalen Konzepten Zielgruppen erreichen, die wir bisher nicht erreichen. Und wenn wir es dann noch schaffen, für diese Gruppen, die wirklich keinen Zugang haben, digitale Anbindung zu schaffen, dann sind wir einen guten Schritt weiter.
Lütje: Corona zwang zu Einschränkung stationärer Leistungen mit schmerzhaften finanziellen Folgen für die Krankenhäuser. Wir brauchen nicht nur einen Rettungsschirm für sie. Wir brauchen auch einen Rettungsschirm für die vulnerablen Gruppen. Einen Milliardenfond, der jede Familie mit zwei, drei Tabletts versorgt.
Geppert-Orthofer: Das kann ich nur unterstreichen. Jede Familie braucht einen Internetanschluss, das tut auch der Schule, dem Bildungssystem gut. Das ist für mich eine Fürsorgeleistung des Staates und ist von gesellschaftlichem Interesse.
Wie kann es gelingen, die Berufe in der Geburtshilfe wieder attraktiv zu machen?
Geppert-Orthofer: Wir brauchen die bestmöglichen Bedingungen für eine individuelle und zugewandte Betreuung der Frauen und Familien von der Schwangerschaft über die Geburt bis zum Ende der Stillzeit. Doch eine gute Geburtshilfe gibt es nicht zum Nulltarif. Großbritannien hat sich vor 15 Jahren auf den Weg gemacht, die Geburtshilfe solide aufzustellen. England hat ca. 700.000 Geburten im Jahr, wir etwa 800.000. Wir haben geschätzt 25.000 Hebammen. England hat in den letzten zehn Jahren die Anzahl auf 51.000 verdoppelt.
Lütje: Auch für die Ärzte ist die Arbeit richtig belastend. Vor allem in den Nachtschichten werden wir hart gefordert. Wir arbeiten immer mehr mit Honorarkräften, die sich ihre Arbeit teuer bezahlen lassen, und es gibt eine hohe Fluktuation.
Es wird eine Zentralisierung in der Geburtshilfe geben müssen. Die Frage ist: Wie richten wir diese Zentren aus, damit sie wirklich jedem eine Bleibe sind. Das geht aus meiner Sicht nur dreistufig: mit einem Geburtshaus auf dem Gelände, das völlig eigenständig von Hebammen geleitet ist, mit Kreißsaal und einem Perinatalzentrum on the top mit Austauschmöglichkeiten. Das kann hoch attraktiv sein und gibt es auch so in England. Dort und in den skandinavischen Ländern wird übrigens sehr viel mehr Hebammenforschung gemacht. Da muss man Anleihen nehmen.
Geppert-Orthofer: Ich bin sicher, so ein Modell wird kommen. Das komplette Bedarfsspektrum von Frauen muss an einem Ort abgebildet sein. Zur Forschung muss man sagen, dass eine Entwicklung wie in den skandinavischen Ländern in Deutschland verschlafen wurde. Wir haben angefangen, die Akademisierung umzusetzen, da war die Übergangsfrist in der EU abgeschlossen. Die begann 2013 und sollte am 18. Januar 2020 zu Ende sein. Unser Gesetz ist erst am 1. Januar 2020 in Kraft getreten. Es muss darum gehen, Frauen und Familien die bestmögliche Versorgung in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zukommen zu lassen. Dazu braucht es eben Hebammenkunst und ärztliche Tätigkeit. Beides ist gut und muss gleichermaßen qualifiziert sein. Das werden wir jetzt in Deutschland nachholen.
Lütje: In der Forschung tut sich viel. Wir haben tolle Hebammenleitungsfunktionen, es gibt tolle Forscherinnen und gute Ansätze. Und wir haben die Leitlinie, die von Hebammenwissenschaftlerinnen federführend begleitet wurde. Da haben wir ein riesen Tool von hoher Qualität, und da müssen wir konsequent weitermachen, auch gegen alle Widerstände. Und wir haben das Nationale Gesundheitsziel.
Geppert-Orthofer: Es ist Luft nach oben, aber wir sind auf einem guten Weg.