Resilienz in Zeiten von Flucht und Heimatlosigkeit. Präventive psychosoziale Betreuung von Flüchtlingsfamilien mit Kindern im ersten Jahr nach ihrer Ankunft
Impulsvortrag
Prof. Dr. Patrick Meurs, Sigmund-Freud-Institut Frankfurt am Main
Hilfen für geflüchtete Familien lohnen sich. Und: Sie fördern kindliche Entwicklungsverläufe, wenn sie frühzeitig einsetzen. Zu diesem Fazit kommt Prof. Dr. Patrick Meurs vom Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main. Er forscht seit vielen Jahren, welche Effekte frühpräventive Angebote auf die Entwicklungsverläufe von Kindern und Jugendlichen mit Migrations- und Fluchthintergrund haben.
In seinem Vortrag stellte Meurs zentrale Ergebnisse seiner Forschung und darauf aufbauende Hilfsangebote vor.
Warum ist es so wichtig, geflüchteten Familien unmittelbar nach der Ankunft und möglichst früh im Lebensverlauf der Kinder präventive Hilfen anzubieten? Menschen auf der Flucht verlieren ihre Heimat und vertraute Personen. Für viele gehe die Flucht auch mit traumatischen Erfahrungen von Gewalt und Lebensbedrohung einher. "Vieles davon lässt sich verarbeiten. Die meisten schaffen das jedoch nicht alleine", erklärte Patrick Meurs. "Resilienz ist nicht unendlich und kommt im Fall einer traumatischen Flucht schnell an ihre Grenzen." Frühe Unterstützungsangebote, so der Entwicklungspsychologe, tragen wesentlich dazu bei, die Belastungen und Risiken zu reduzieren. Sie stärkten die kindlichen Selbstheilungskräfte, vergrößerten die Entwicklungsmöglichkeiten und machten Rückschritte weniger wahrscheinlich. Ohne frühe Unterstützungsangebote hingegen sei der Einfluss von Selbstheilungskräften nicht ausreichend. Oder sogar rückläufig. Früh im Leben oder unmittelbar nach einem Trauma, erklärte Patrick Meurs, könne der Mensch flexibler regieren. Sein Veränderungspotenzial sei größer als zu späteren Zeitpunkten im Leben.
Vor allem traumatisierte Kinder und Jugendliche sollten so früh wie möglich Unterstützung bekommen. Die Neuropsychologie zeigte, dass traumatische Erfahrungen langfristig im Organismus gespeichert und jederzeit wieder abrufbar sein könnten. So erkläre sich, dass ein kleiner Konflikt selbst in einer sicheren Umgebung erneut traumatisch wirken könne. Ein frühes präventives Angebot reduziere das Risiko für Re-Traumatisierungen.
Patrick Meurs verwies auf seine Studien, die zeigten, dass die Entwicklung von geflüchteten Kindern, die bei der Ankunft in Europa ohne Hilfe bleiben, problematischer sei als bei Kindern, die früh nach dem Auftreten der Risikofaktoren Unterstützung bekämen. In einer Gruppe geflüchteter Kinder etwa, die 2015 im Alter von drei Jahren nach Europa kamen, seien rund 60 Prozent in ihrer Entwicklung verzögert. Zwei Jahre später zeigten vier von zehn Kindern aus jener Teilgruppe, die damals keine Frühen Hilfen erhielten, ein Entwicklungsrisiko – die meisten von ihnen sogar in zwei oder drei verschiedenen Entwicklungsbereichen. Bei den Kindern hingegen, die nach ihrer Ankunft am Präventionsangebot "Erste Schritte" teilgenommen hätten, läge das Risikoprofil nach 24 Monaten bei 25 Prozent. Diese Kinder seien überwiegend in nur einem Entwicklungsbereich verlangsamt – ein deutlich besseres Ergebnis also als in der Vergleichsgruppe ohne Frühe Hilfen.
Vor diesem Hintergrund appellierte Patrick Meurs an die "moralische Pflicht" der Gesellschaft, Frühe Hilfen für geflüchtete Familien anzubieten. Daran sollten kontinuierliche Angebote anschließen, um die verschiedenen Phasen der Fluchtverarbeitung zu unterstützen. Der Psychoanalytiker verwies dabei auch auf Ergebnisse der sozioökonomischen Forschung: "Ein Euro Investition in Kinder mit Migrations- und Fluchthintergrund fördert nicht nur den Entwicklungsverlauf der Kinder. Er bereichert die Gesellschaft auch ökonomisch – mittelfristig um sieben Euro, langfristig sogar um 17 Euro."