Frühe Hilfen sind mehr als Kinderschutz
Alexandra Sann vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) verwies, ähnlich wie ihre Vorrednerinnen und Vorredner, auf den Bedeutungswandel des Begriffs „Frühe Hilfen“ von der Frühförderung behinderter oder von Behinderung bedrohter Kinder in den 1970-er Jahren bis zum präventiven Kinderschutz in der aktuellen Debatte. Sie machte darüber hinaus deutlich, dass es auch im Laufe der Arbeit des NZFH einen intensiven Diskussionsprozess um den Begriff der Frühen Hilfen gegeben hat und immer noch gibt, der die Frühen Hilfen von der Engführung auf den Kinderschutz ein Stück weit gelöst und um Anteile von Förderung und Teilhabe erweitert hat.
Sie erläuterte zunächst die Definitionsmerkmale von Frühen Hilfen gemäß dem Aktionsprogramm der Bundesregierung aus dem Jahr 2006 "Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme", das sehr stark von der Kinderschutzdebatte geprägt war. Frühe Hilfen beziehen sich in diesem Verständnis ausschließlich auf die Prävention von Vernachlässigung und Misshandlung bei Säuglingen und Kleinkindern beginnend mit der Schwangerschaft bis zum Ende des dritten Lebensjahres. Dabei steht die Früherkennung von familiären Belastungen und Risiken für das Kindeswohl sowie die frühzeitige Unterstützung der Eltern zur Stärkung ihrer Erziehungskompetenzen im Vordergrund. Die Förderung der gesunden Entwicklung der Kinder ist also nur mittelbar Ziel der Frühen Hilfen. Eine Verbesserung der Unterstützung von jungen Eltern soll vor allem durch eine systematischere Kooperation von Gesundheitswesen, Kinder- und Jugendhilfe und bürgerschaftlichem Engagement erreicht werden und weniger durch die Installierung neuer Angebote. Alexandra Sann fasste die Ausrichtung der Frühen Hilfen, wie sie im Aktionsprogramm vorgenommen wurde, als sekundäre oder selektive Prävention für Risikogruppen zusammen. Darunter fallen vor allem Schwangere und junge Mütter und Väter in belastenden Lebenslagen. Die Frühen Hilfen fokussieren dabei in erster Linie auf die Lebenslage der Eltern, wie z.B. psychische Probleme, Suchterkrankung oder Gewalt in der Partnerschaft, welche zu Schwierigkeiten bei der Versorgung des Kindes und dem Aufbau einer Bindung führen können. In weit geringerem Maße werden bei den Frühen Hilfen auch Merkmale der Kinder in den Blick genommen, wie z.B. ein so genanntes schwieriges Temperament oder eine (drohende) Behinderung, die erhöhte Fürsorgeanforderungen mit sich bringen und damit bei den Eltern zu einer Überforderungssituation führen können.
Im Verlauf der Diskussion in den Fachgremien des NZFH wurden einige Punkte der Definition aus dem Aktionsprogramm kritisch hinterfragt und neu justiert. Vor allem die Positionierung der Frühen Hilfen zwischen Hilfe und Kontrolle, Förderung und Schutzauftrag stand im Mittelpunkt der Debatte. Frühe Hilfen sollen nicht auf eine Art Vorstufe des Kinderschutzes im engeren Sinne (verstanden als staatliches Eingreifen gegen den Elternwillen bei Kindeswohlgefährdung) reduziert werden, sondern sich als ein eigenständiges Handlungsfeld begründen im Sinne der Befähigung von Eltern, für ein gesundes Aufwachsen ihrer Kinder sorgen zu können. Dies schlägt sich auch deutlich in der aktuellen Begriffsbestimmung Früher Hilfen durch die Beiräte des NZFH nieder, die erstmals auch einen expliziten Bezug zu den Kinderrechten beinhaltet: "Frühe Hilfen bilden lokale und regionale Unterstützungssysteme mit koordinierten Hilfeangeboten für Eltern und Kinder ab Beginn der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren mit einem Schwerpunkt auf der Altersgruppe der 0- bis 3-Jährigen. Sie zielen darauf ab, Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Eltern in Familie und Gesellschaft frühzeitig und nachhaltig zu verbessern. Neben alltagspraktischer Unterstützung sollen Frühe Hilfen insbesondere einen Beitrag zur Förderung der Beziehungs- und Erziehungskompetenz von (werdenden) Müttern und Vätern leisten. Damit tragen sie maßgeblich zum gesunden Aufwachsen von Kindern bei und sichern deren Rechte auf Schutz, Förderung und Teilhabe." Diese Begriffsbestimmung eröffnet Anschlussmöglichkeiten für die Beiträge unterschiedlicher Hilfesysteme zu einer integrativen Begleitung und Unterstützung von Eltern und Kindern in der Phase der frühen Kindheit.
Im weiteren Vortrag führte Alexandra Sann aus, welche Unterschiede aber auch Gemeinsamkeiten sich zwischen Frühförderung und Frühen Hilfen in Bezug auf Ziele, Zielgruppen, Arbeitsweisen und beteiligte Professionen erkennen lassen. Ein bio-psycho-soziales Modell menschlicher Entwicklung könnte dazu ein gutes gemeinsames theoretisches Fundament bilden. Die Ergebnisse der bundesweiten Bestandsaufnahme zu Kooperationsformen im Bereich Früher Hilfen zeigen, dass die Jugend- und Gesundheitsämter die Einrichtungen der Frühförderung als sehr bedeutsame KooperationspartnerInnen einstufen, mit denen sie in der Regel gut zusammenarbeiten (vor allem seitens der Gesundheitsämter), allerdings geschieht dies noch nicht allzu häufig. Hier gibt es also gute Ansätze mit Entwicklungspotenzial. Denn nur gemeinsam wird es gelingen, mit frühzeitigen Hilfeangeboten die gesunde Entwicklung von Kindern zu fördern und die Resilienz von Familiensystemen zu stärken!