Versorgung von Säuglingen und Kleinkindern mit psychisch kranken Eltern
Vortrag von Prof. Dr. Sabine Wagenblass
Prof. Dr. Sabine Wagenblass von der Hochschule Bremen betonte, dass die Frühen Hilfen ein großes Potenzial haben für die Unterstützung psychisch kranker Eltern. Die Frühen Hilfen sind positiv besetzt und setzen früh an. Dieses Potenzial können sie aber nur nutzen, wenn die strukturellen, finanziellen und personellen Rahmenbedingungen erfüllt sind. Voraussetzungen sind insbesondere eine stärkere Einbindung der Erwachsenenpsychiatrie und der anderen medizinischen Bereiche in das Netzwerk Frühe Hilfen, langfristige Begleitung, Schließen von Lücken in der Angebotsstruktur sowie sichere und verlässlich finanzierte Hilfesysteme. Ehrenamtliche Hilfe und Fachkräfte bis hin zu Familienhebammen sind ab einem gewissen Schweregrad der Erkrankung fachlich und strukturell überfordert.
Prof. Dr. Sabine Wagenblass lehrt als Professorin im Studiengang Soziale Arbeit an der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Hochschule Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kinder- und Jugendhilfe, Frühe Hilfen für Familien, Kinderschutz, Kinder psychisch kranker Eltern sowie Geschichte und Theorien Sozialer Arbeit.
Hier finden Sie eine autorisierte Kurzfassung des Vortrags. Zusätzlich stellen wir Ihnen den ausführlichen Folienvortrag als pdf-Datei zum Download sowie einen Audiomitschnitt bereit.
Veränderungen durch die Frühen Hilfen
Die Frühen Hilfen haben laut Prof. Dr. Sabine Wagenblass dazu geführt, dass die Erfordernisse der Lebensphase der frühen Kindheit in der Bevölkerung und der Fachöffentlichkeit angekommen sind. Dies lässt sich ablesen am Ausbau der Angebote und der Sensibilisierung der Eltern für diese Lebensphase. Der Buchmarkt für Eltern ist mit Publikationen zum Thema überschwemmt. Dies führt aber leider nicht zu einer Kompetenzstärkung der Eltern im Umgang mit Erziehungsfragen; eher ist das Gegenteil der Fall, eine Verunsicherung der Eltern durch widersprüchliche Empfehlungen.
Deutlich verändert hat sich in den letzten Jahres die Inanspruchnahme der Kinder- und Jugendhilfe. Bei den Fallzahlen ist eine überproportionale Steigerung in der Altersgruppe der 0- bis 3-Jährigen festzustellen. Während im Jahr 2000 Eltern zumeist erst mit dem Schuleintritt Erziehungsberatung in Anspruch nahmen, zeigt sich mittlerweile eine Steigerungsquote um 40 Prozent in der Erziehungsberatung und um 15 Prozent in der Fremdunterbringung. In der Erziehungsberatung beruht diese Zunahme in erster Linie auf Eltern aus mittleren und höheren sozialen Schichten. In der Fremdunterbringung zeigen sich vermehrt Familien mit sozialstaatlichen Leistungstransfers in Armutslagen.
Die Fachkräfte bestätigen unisono die Relevanz der Frühen Kindheit als sensible, vulnerable Phase, in der wichtige Grundlagen für die weitere Entwicklung des Kindes gelegt werden. Als Reaktion darauf sind neue Studiengänge wie z.B. „Frühe Kindheit“, Weiterbildungen, wie z.B. die Entwicklungspsychologische Beratung und neue professionelle Zuschnitte wie z.B. Familienhebammen entstanden. Fortschritte stellen ebenso die gesetzliche Verankerung im Bundeskinderschutzgesetz sowie der Aufbau von Koordinierungsstellen für Netzwerke Frühe Hilfen dar. Nahezu 100% der Kommunen verfügen mittlerweile über ein Netzwerk. Diese Netzwerke sind die Schlüsselstelle, um psychisch erkrankte Eltern im Rahmen der Frühen Hilfen zu erreichen. Insgesamt ist ein buntes Bild an Frühen Hilfen in den Kommunen entstanden. Kritiker sagen, jeder macht, was er will - es fehlt eine einheitliche Richtung. Angebote für psychisch erkrankte Eltern sind in die Netzwerke bislang nur vereinzelt integriert.
(Erst)Kontakt zu psychisch erkrankten Eltern
Der Erstkontakt zu psychisch erkrankten Eltern erfolgt in der Regel durch das medizinische System. Der Kontakt zur Kinder- und Jugendhilfe wird oftmals erst in Krisensituationen hergestellt, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist (Wächteramt). Präventive Angebote werden wenig genutzt. Hier liegen die Chancen der Frühen Hilfen. Diese sind im Gegensatz zu dem als Kontrollinstanz stigmatisierten Jugendamt in der Bevölkerung positiv besetzt und die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme liegt höher. Erforderlich ist eine Einbindung des medizinischen Systems in das Netzwerk Frühe Hilfen.
Akteure in den Netzwerken Frühe Hilfen
Bezogen auf die Zielgruppe psychisch erkrankter Eltern stellt die geringe Beteiligung der Institutionen der Erwachsenenpsychiatrie sowie die eher mittelmäßige bis schlechte Beurteilung der Kooperationsqualität ein großes Problem dar, denn die Erreichbarkeit der psychisch erkrankten Eltern ist maßgeblich von diesen Institutionen und einem Zusammenwirken derselben abhängig. Wenn die Frühen Hilfen Angebote für Kinder psychisch erkrankter Eltern bereitstellen wollen, ist dazu eine stärkere Einbindung der Erwachsenenpsychiatrie und der anderen medizinischen Bereiche notwendig.
90% der Netzwerkkoordinierenden sind bei den örtlichen Jugendämtern angesiedelt (lediglich 4,5% bei den Gesundheitsämtern). Über 85% der Netzwerkkoordinatorinnen haben Berufserfahrung in der Jugendhilfe, nur 18% im Gesundheitswesen (vgl. NZFH 2015: Datenreport, S 23ff). Die Netzwerke sind damit eher „jugendhilfelastig“. Dies erschwert den Kooperationszugang zum psychiatrischen Hilfesystem und das Verstehen von psychischen Erkrankungen.
Angebotsstruktur Frühe Hilfen
„Frühe Hilfen verorten sich in erster Linie im Bereich der primären und sekundären Prävention. Die größte Dynamik in den Jugendämtern bezieht sich auf Informationsmaterialien und Begrüßungsschreiben. Danach folgen längerfristige aufsuchende Betreuungen sowie Begleitungen durch Fachkräfte wie Familienhebammen und Fachkräfte aus vergleichbaren Berufsgruppen, aber auch der Einsatz von Ehrenamtlichen.“ (s. Bericht der Bundesregierung 2016, S. 48) In der Arbeit mit psychisch kranken Eltern fühlen sich Ehrenamtliche sowie teilweise auch Fachkräfte fachlich und strukturell überfordert.
Frühe Hilfen für psychisch erkrankte Eltern
Frühe Hilfen sind ein Angebot für Familien, das sie freiwillig und auf eigenen Wunsch in Anspruch nehmen können. Die Kräfte von psychisch erkrankten Eltern sind jedoch stark durch die Erkrankung und den damit verbundenen Beeinträchtigungen im Handeln, Denken und Fühlen gebunden. In akuten Krankheitsepisoden sind eher Rückzugs- und Abschottungstendenzen zu beobachten, die Einfluss auf eine mögliche freiwillige Inanspruchnahme von Hilfen haben.
Prof. Dr. Sabine Wagenblass schlug folgende Lösungen vor, damit psychisch erkrankte Eltern Frühe Hilfen dennoch in Anspruch nehmen:
1. Spezifische Angebote der Unterstützung schaffen
Es kann davon ausgegangen werden, dass Informationsbroschüren und Begrüßungsschreiben sowie allgemeine Eltern-Kurse oder Eltern-Kind-Gruppen eher weniger von psychisch erkrankten Eltern in Anspruch genommen werden (Schwelle der Inanspruchnahme). Wenn Elternkurse angeboten werden, dann sollten diese auf die spezifischen Bedarfe der Kinder und Eltern ausgerichtet sein (elterliche Mentalisierungsfähigkeit und Feinfühligkeit, Förderung der Interaktion mit dem Kind, usw.). Weiterhin ist vorab die Frage zu klären, wie Eltern Zugang zu den Kursen erhalten.
2. Langfristige Entlastung ermöglichen
Psychische Erkrankungen sind schwerwiegende Erkrankungen, die mit großem Stresserleben verbunden sind und die elterlichen Beziehungs- und Erziehungskompetenzen einschränken können. Insbesondere, wenn die Mütter alleinerziehend sind und soziale Unterstützungsnetzwerke fehlen, ist eine langfristige Begleitung und Unterstützung durch z.B. Familienhebammen notwendig. Der Unterstützungsbedarf kann dabei durchaus schwankend sein. Jenseits des Kostendrucks brauchen wir ein neues Verständnis von Langfristigkeit, unterstrich Prof. Dr. Sabine Wagenblass.
3. Überforderung der Helfer(innen) entgegenwirken
Ohne den Aufbau multiprofessioneller Netzwerke und tragfähiger Kooperationsstrukturen sind die einzelnen Helfenden mit der Komplexität der Problemlagen in diesen Familien überfordert. Notwendig sind auch neue Formen der Weiterbildung (Querschnittskompetenzen wie z.B. Zertifikatskurs sozialpsychiatrische Fachkraft). Der Einsatz von Ehrenamtlichen kann nur ergänzend zu anderen Hilfeleistungen erfolgen und muss gut begleitet werden (Erfahrung Patenschaften). Ohne angemessene Unterstützung treffen ansonsten überforderte Helfende auf überforderte Familien.
4. Die Lücken in der Angebotsstruktur in der Jugendhilfe und Erwachsenpsychiatrie für psychisch erkrankte Eltern und ihre Säuglinge müssen geschlossen werden.
Die Frühen Hilfen können ihre Lotsenfunktion nur dann wahrnehmen, wenn sie die Familien in entsprechende Angebote lotsen können. Dazu sind notwendig:
- Eine finanzielle Absicherung der Projekte als dauerhafte Regelangebote - Eine Finanzierung über weitere Modellprojekte bewirkt nur zeitlich begrenzte Leuchtturmprojekte.
- Aufbau einer Hilfestruktur – Eine Bandbreite von ambulanten, teilstationären, stationären Hilfen ist bislang nicht gegeben.
- Regionale Besonderheiten sind angesichts des Stadt-Land-Gefälles zu berücksichtigen.
5. Erleben von Hilfe- und Beziehungsabbrüchen in den Hilfesystemen erschwert den Hilfeprozess
Die Übergänge von einem Hilfsangebot ins nächste müssen stärker begleitet werden. Mit der Herausnahme des Kindes endet z.B. oft die Hilfe für die Eltern. Ebenso muss der hohen Fluktuation bei den Fachkräften auf Grund von befristeten Stellen, Überlastung, usw. durch eine angemessene Bezahlung, sichere Arbeitsverhältnisse, geringere Fallbelastung und Supervision entgegengewirkt werden.