Über Gewalt sprechen
Prof. Dr. Carol Hagemann-White, die als eine der ersten Sozialwissenschaftlerinnen in der Bundesrepublik das Thema "Gewalt im Geschlechterverhältnis" bereits Mitte der 1970er aufgegriffen und seitdem intensiv zu Fragen nach den Ursachen wie auch der Überwindung der Gewalt geforscht hat, erklärte in ihrem Einführungsvortrag, warum Frühe Hilfen mit den Interventionsnetzwerken der häuslichen Gewalt verzahnt werden müssen. Etwa sechs bis zehn Prozent aller Frauen in Deutschland erleben in ihrer aktuellen Partnerschaft Gewalt, bei Migrantinnen liegt die Quote bei 30 Prozent. Den Ergebnissen einer repräsentativen Studie zufolge, für die über 10.000 in Deutschland lebende Frauen nach Gewalterfahrungen befragt wurden, ist keine Korrelation zu einer bestimmten sozialen Schicht oder einem bestimmten sozialen Milieu feststellbar. Zwei Drittel der Gewalt ausübenden Männer verfügen über einen mittleren bis hohen Bildungsabschluss. Von häuslicher Gewalt besonders betroffen sind unter 35-jährige Frauen mit geringen Ressourcen und über 45-jährige Frauen, die ihrem Partner gleichgestellt sind. (Anm. der Red.: Die Studie von Monika Schröttle und Ursula Müller wurde 2004 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend herausgegeben; zentrale Ergebnisse der Studie finden sich in der 2008 vom BMFSFJ veröffentlichten Broschüre „Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen“).
Hagemann-White erläuterte, dass es sich bei häuslicher Gewalt um chronische, in die Paarbeziehung eingebettete schwere Gewalt handelt, von der nach bisherigem Kenntnisstand überwiegend Frauen betroffen sind. Die UNO hat die Gewalt gegen Frauen zur Menschenrechtsverletzung erklärt, was bedeutet, der Staat ist in der Pflicht. Mit Blick auf die Frühen Hilfen verdeutlichte Carol Hagemann-White, dass die Zeit der Schwangerschaft eine besondere Rolle im Gewaltgeschehen spiele. "Die Schwangerschaft steigert die empfundene Gebundenheit des Paares, und dies aktiviert möglicherweise traumatische Erlebnisse aus der eigenen Kindheit." Bei entsprechenden Hilfen sowohl für Väter als auch für Mütter könne diese Zeit aber auch die Chance für eine Traumabewältigung sein. Dies setzt jedoch voraus, dass Fachkräfte wie z.B. Hebammen und Familienhebammen lernen, Gewalt anzusprechen, wenn sie Anzeichen dafür wahrnehmen. Neben Kompetenzen im Erkennen und Sprechen über Gewalt müsse in der Aus- und Fortbildung von Berufsgruppen Früher Hilfen zudem ein Grundwissen vermittelt werden über Methoden zur Risikoabschätzung der Gefährlichkeit des Mannes und der Gefährdung der Frau. Die in den Frühen Hilfen entwickelten neuen Konzepte multiprofessioneller Fortbildung bieten eine Chance dafür, schloss Hagemann-White.