Das Potenzial von Hochschulen für den Kompetenzerwerb von Hebammen für die Betreuung von Familien mit psychosozialen Belastungen
Prof. Dr. Friederike zu Sayn-Wittgenstein, Professorin für Pflege- und Hebammenwissenschaft an der Hochschule Osnabrück, führte in die Bedeutung und Rolle der Hochschulen für den Kompetenzerwerb von Hebammen ein, um eine Zusammenarbeit mit Akteuren in den Frühen Hilfen zu befördern. Sie blickte dabei auf die hochschulische Qualifizierung von Hebammen sowie die Fort- und Weiterbildung von bereits berufserfahrenen Hebammen.
Die Expertin knüpfte in ihren Ausführungen an den Impulsvortrag von Prof. Dr. Martina Schlüter-Cruse und die im Eckpunktepapier beschriebenen Rahmenbedingungen zur Einbindung freiberuflicher Hebammen in Frühe Hilfen und deren Potenziale an: "Die im Eckpunktepapier formulierten Erkenntnisse und Empfehlungen führen letztlich zu der Frage: Wie kann die Versorgung von Familien in belastenden Lebenslagen auch zukünftig sichergestellt werden, insbesondere wenn der Anteil der Familien weiter steigt?".
Welche Chancen bietet das Hochschulstudium, um Hebammen für die Begleitung von belasteten Familien im Kontext der Frühen Hilfen vorzubereiten?
Prof. Dr. Friederike zu Sayn-Wittgenstein skizzierte die Eckpunkte des novellierten Hebammengesetzes (HebG 2020), auf dessen Basis der Zugang zum Beruf der Hebamme zukünftig ausschließlich über ein Studium erfolgen wird. Die Wissensvermittlung an Hochschulen werde mit einem berufspraktischen Teil kombiniert, der Praxiszeiten enthalte und fachlich begleitet werde. In dem Zusammenhang sei eine "Architektur der Lernortverknüpfung" erforderlich, in deren Ausgestaltung die Expertin eine Chance sah, um auch eine Anknüpfung an das Handlungsfeld der der Frühen Hilfen im Studium herzustellen.
Dazu stellte die Vortragende die gesetzlich vorgesehene Kooperationsstruktur der drei Lernorte vor: eine Hochschule, eine verantwortliche Praxiseinrichtung (vPE), in der Regel ein Krankenhaus, sowie Einrichtungen im außerklinischen Bereich.
Wie sind die Lernorte miteinander verknüpft und wie sind die Verantwortlichkeiten verteilt?
Die Gesamtverantwortung der Lernortverknüpfung und Koordination der theoretischen und praktischen Lehrveranstaltungen liege bei den Hochschulen. Die jeweilige Hochschule schließe dabei in erster Linie einen Kooperationsvertrag mit einer oder auch mehreren verantwortlichen Praxiseinrichtung(en) (vPE). Diese vPE wiederum verantworte den berufspraktischen Teil und kooperiere dazu mit weiteren Einrichtungen im außerklinischen Bereich. Teil davon sei ein "optionaler Einsatz", der insgesamt 480 Stunden umfasse, und zum Beispiel in der hebammengeleiteten Schwangerenbetreuung möglich sei sowie in "weiteren geeigneten Einrichtungen" (HebG 2020). In dem Zusammenhang sei ein Praxiseinsatz bei einer Familienhebamme denkbar.
Welche Qualifikationsziele werden im Hebammen-Studium verfolgt?
Zwei der im Hebammengesetz formulierten Studienziele griff Friederike zu Sayn-Wittgenstein mit Bezug zum möglichen Einsatz in den Frühen Hilfen heraus: So sei gesetzlich vorgesehen, dass Hebammen durch das Studium dazu befähigt würden, "belastende Lebenssituationen und psychosoziale Problemlagen bei Frauen und deren Familien frühzeitig zu erkennen und gegebenenfalls auf erforderliche Maßnahmen zur Unterstützung hinzuwirken" (§ 9 (4) 1.d) HebG). Eingeschlossen seien darin auch Angebote der Frühen Hilfen. Außerdem sollten Hebammen befähigt werden, "interprofessionell mit anderen Berufsgruppen fachlich zu kommunizieren und effektiv zusammenzuarbeiten" (§ 9 (4) 3.) HebG).
Wie können Hebammen in ihrem Studium vorbereitet werden, belastete Familien zu begleiten?
Als die beiden zentralen Ansätze und Wege, um Hebammen für die Begleitung von Familien in belasteten Lebenslagen zu befähigen und die notwendigen Kompetenzen zu erwerben, stellte die Expertin den Ausbildungsteil in der Hochschule sowie den vertiefenden Praxisteil vor:
- Am Lernort Hochschule könnten die notwendigen Kompetenzen theoretisch vermittelt werden, zum Beispiel durch Grundlagen der Kommunikation und der Kommunikation in konflikthaften Situationen, das ressourcenorientierte Arbeiten, das Erkennung und die Einschätzung von Belastung und Gefährdung, die Arbeit mit Familien in belastenden Lebenslagen, das komplexe Fallverstehen und die Fallarbeit, aber auch die multiprofessionellen Kooperationen, wie sie in den Frühen Hilfen gelebt würden.
- Ganz wesentlich erfahre dieser theoretische Kompetenzerwerb aber eine vertiefte – und vertiefende – Anwendung durch den berufspraktischen Teil, der im Feld der Frühen Hilfen optional absolviert werden könne.
Sogar im klinischen Bereich könnten, zum Beispiel mit Lotsendiensten in Geburtskliniken, praktische Zugänge zu Frühen Hilfen in die Ausbildung integriert werden.
Welche Voraussetzungen sind notwendig, damit dieser Kompetenzerwerb gelingen kann?
Wichtig sei, so die Professorin, dass alle beteiligten Akteure und Lernorte über Informationen zur veränderten Ausbildungssituation von Hebammen und ihrer Implikationen innerhalb der Netzwerke verfügen. Das bedeute insbesondere, "dass die Bereitschaft zu einer Kooperation mit den anderen Akteuren und Lernorten vorhanden sein sollte".
Darüber hinaus sollte geprüft werden, ob Praxisplätze für den berufspraktischen Teil des Studiums verbindlich bereitgestellt werden könnten. Wichtig sei in dem Zusammenhang auch zu wissen, dass während der Praxiszeit eine Praxisanleitung durch eine qualifizierte Hebamme der Studierenden sichergestellt sein müsse.
Welche Herausforderungen bringt die veränderte Ausbildungssituation mit sich?
Aufgrund des begrenzten Zeitfensters im Studium für den Praxiseinsatz im außerklinischen Bereich müsse ein Ziel sein, möglichst viele freiberufliche Hebammen und Familienhebammen zu gewinnen. Eine Anknüpfung an das Handlungsfeld der Frühe Hilfen sei über Lotsendienste in Geburtskliniken auch während des Praxiseinsatzes im Krankenhaus möglich.
Mit Blick auf die Autonomie der Hochschulen in Forschung und Lehre wies Friederike zu Sayn-Wittgenstein darauf hin, dass curriculare Inhalte – auch zu Frühen Hilfen – trotz gesetzlich vorgegebener Studienziele von den Hochschulen mit unterschiedlicher Tiefe umgesetzt werden könnten.
Als zentral für einen vertiefenden Kompetenzerwerb seien stabile Kooperationen relevanter Einrichtungen für Praxiseinsätze im Studium.
Wie können berufserfahrene Hebammen für den Einsatz in den Frühen Hilfen sensibilisiert werden?
Um bereits examinierte und berufserfahrene Hebammen für eine Zusammenarbeit mit Akteuren der Frühen Hilfen gewinnen zu können, sei die Entwicklung zusätzlicher spezifischer hochschulischer Angebote sinnvoll. Diese könnten sich beispielsweise am Kompetenzprofil für Familienhebammen des NZFH orientieren. Einige Hochschulen öffneten sich bereits für diese Berufsgruppe. So seien Bachelorstudienprogramme berufsbegleitend oder additiv möglich, um erfahrene Hebammen auch und besonders für die Arbeit mit belasteten Familien zu befähigen, auf multiprofessionelle Kooperationen in den frühen Hilfen vorzubereiten und Praxisanleitung auszubauen. "Mit weiteren Entwicklungen ist zu rechnen", so Friederike zu Sayn-Wittgenstein.
Welchen Einfluss hat die Akademisierung der Hebammenausbildung auf die Qualifizierung von Familienhebammen?
Aktuell sehe sie "keine wesentlichen Auswirkungen" der vorgestellten Hochschulausbildung auf die Fach-Weiterbildung von Familienhebammen. Mittelfristig seien aber Entwicklungen und Auswirkungen vorstellbar, zum Beispiel die Anrechnung der an der Hochschule erworbenen Kompetenzen auf die Fach-Weiterbildung zur Familienhebamme sowie in der Berufspraxis erworbene Kompetenzen für das Hochschulstudium.