Die Situation von Familien und kleinen Kindern in bzw. nach der Pandemie aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe
Elisabeth Schmutz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ism), blickte aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe auf die Situation von Familien und griff dabei auf Erfahrungen aus der Entwicklung von "Forum Transfer" zurück. Die Plattform sei während der Pandemie für Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe zum Austausch und für Informationen entstanden. Sie stelle einen großen Fundus an Erfahrungen aus der Praxis vor, insbesondere aus der Anfangsphase der Pandemie.
Welches sind die Kernherausforderungen der Pandemie für die Kinder- und Jugendhilfe?
Mithilfe eines ausführlichen Schaubildes stellte sie vier Kernherausforderungen vor, denen die Kinder- und Jugendhilfe gegenüber gestanden habe:
- In Kontakt bleiben: Da Kinder- und Jugendhilfe immer Beziehungsarbeit sei und Kontakt die Grundlage jeglichen Handelns, sei das wichtigste gewesen, trotz Lockdowns und Kontaktbeschränkungen in Kontakt zu bleiben, Nähe und Distanz auszubalancieren und Kontaktmöglichkeiten neu auszuhandeln.
- Krise und Intervention: In Krisen zu helfen, sei das Kerngeschäft der Kinder- und Jugendhilfe. Das besondere sei gewesen, dass die Pandemie und ihre Folgen die Familien, aber auch die Fachkräfte verunsicherten. Dem erhöhten "Krisenpotential" auf der Bedarfsseite hätten eingeschränkte Interventionsmöglichkeiten auf der Seite der Unterstützenden gegenübergestanden.
- Alltagsleben neu gestalten: Es sei schnell deutlich geworden, dass der familiäre Alltag UND der berufliche Alltag neu strukturiert werden mussten. Durch das Wegfallen der Betreuungs- und Unterstützungsstrukturen seien die Familien "auf ihre Kern-Familien reduziert" worden, was zu enormen Belastungen geführt habe. Dies sei auch deswegen so gravierend gewesen, weil eine wichtige Botschaft und erwünschte Entwicklung in den letzten Jahren gewesen sei, als Familie Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen und nicht alles alleine bewältigen zu müssen.
- Organisation und Verfahren neu denken: Interne Verfahren und die Zusammenarbeit von öffentlichen und freien Trägern hätten angepasst werden müssen, um bedarfsgerechte Hilfen trotz oder angesichts der Kontaktbeschränkungen zu leisten. Denn sowohl die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe als auch der Rechtsanspruch auf Hilfe hätten sich im Zuge der Pandemie nicht verändert.
Was passiert in der Praxis? Wie kann Kinder- und Jugendhilfe trotz Pandemie weiter gelingen?
- Kontakte und Beziehungsarbeit: Durch den frühen, regen Austausch auf der Plattform "Forum Transfer" sei deutlich geworden, wie schnell sich auch neue Kontaktangebote und Formen der Beziehungsarbeit entwickelt hätten.
- Partizipation: Was kann eine geeignete Möglichkeit sein, die Familien – oder auch Fachkräfte – zu erreichen? Was brauchen sie genau jetzt unter den neuen Bedingungen? Hier sei hilfreich und entscheidend gewesen, gemeinsam mit den Adressatinnen und Adressaten passende Unterstützung auszuloten.
- Digitalisierung: Digitale Beratungs- und Bildungsangebote seien schnell entwickelt und umgesetzt worden und hätten zu einem Innovationsschub geführt. Dabei habe sich aber auch gezeigt, dass eine adäquate technische Ausstattung für Fachkräfte und Familien Grundvoraussetzung sei, um die Angebote in Anspruch nehmen zu können.
- Schutzmaßnahmen für Fachkräfte: Um direkte Kontaktmöglichkeiten aufrechterhalten zu können, seien für Fachkräfte der Frühen Hilfen und Kinder- und Jugendhilfe zudem Schutzmaßnahmen nötig gewesen und frühzeitig eingefordert worden.
Insgesamt sei deutlich geworden, welches Potential gerade in den Frühen Hilfen auch in Krisenzeiten für Familien gelegen habe und liege – als niedrigschwelliges Angebot von Information und Beratung sowie alltagsnaher Begleitung und Entlastung.
Was können wir lernen für den Umgang mit Krisensituationen?
Elisabeth Schmutz fasste zentrale Aspekte zusammen, was mit Blick auf die Kinder- und Jugendhilfe aus der Pandemie, insbesondere der ersten Phase, gelernt werden könnte:
- Auswirkungen und Folgen auf Kinder und Familien müssten in allen politischen Entscheidungen (mehr) berücksichtigt werden.
- Gute soziale Infrastruktur und ein funktionierendes Unterstützungssystem seien zur Krisenbewältigung besonders wichtig. Dazu zählten sowohl universelle als auch spezifische Hilfen, die beide gerade in Krisenzeiten aufrechterhalten werden müssten.
- Es brauche krisenfeste Orte und Räume für soziale Kontakte, Begegnung, Miteinander sowie niedrigschwellig zugängliche, möglichst barrierefreie Anlauf-/Ansprechstellen für Familien und auch unmittelbar für die jungen Menschen.
- Zudem brauche es adäquaten Gesundheitsschutz auch für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe inkl. der Frühen Hilfen.
- Mit Blick auf den flächendeckenden Ausbau der digitalen Infrastruktur sei wichtig, dass digitale Angebote kein Ersatz der analogen Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten sein dürften, sondern eine Erweiterung. Dennoch biete die digitale Ansprache die Chance, auch Familien zu erreichen, die mit bisherigen Angeboten nicht erreicht worden seien.
- Es brauche eine langfristige, verlässliche Existenzsicherung der sozialen Einrichtungen und Dienste.
Abschließend resümierte sie, dass die Pandemie verdeutlicht habe, dass "Kinder- und Jugendhilfe einschließlich der Frühen Hilfen als Infrastruktur des Aufwachsens erhalten, gestärkt und weiterentwickelt werden muss".