direkt zum Hauptinhalt springen

Grußwort

Frau Prof. Dr. Pott

Es gilt das gesprochene Wort 

Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Dr. Gassen,

heute ist ein besonderer Tag und ein Meilenstein in den Frühen Hilfen. Nach 7 Jahren Auf- und Ausbau der Frühe Hilfen – ist dies die erste Tagung auf Bundesebene, die wir mit einem zentralen Partner im Gesundheitswesen durchführen – den Kassenärztlichen Vereinigungen. Dafür an dieser Stelle Ihnen meinen besonderen Dank, sehr geehrter Herr Dr. Gassen, und herzlichen Dank auch an unseren Kooperationspartner, die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg.

Lassen Sie mich kurz erklären, welches Anliegen die Frühen Hilfen verfolgen:

Alle Kinder haben das Recht auf eine faire Chance, in unserer Gesellschaft gesund aufwachsen und teilhaben zu können. Das heißt, dass sie mit dem Gefühl aufwachsen, dass sie erwünscht sind und geliebt werden; dass ihr Urvertrauen gestärkt wird und sie die Entwicklungsschritte, die sie im Leben zu bewältigen haben, zuversichtlich angehen können. Wir wissen, wie entscheidend die frühe Kindheit ist, denn dort werden wichtige Weichen für das weitere Leben gestellt.

Dennoch gelingt dies bei 10 bis 20% der Kinder in Deutschland nicht gut und ein Teil der Kinder hat schon früh mit erheblichen Beeinträchtigungen zu kämpfen. Das Krankheitsspektrum bei Kindern hat sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entscheidend verändert. Die „neue Morbidität“ zeigt sich in einer Verschiebung von akuten zu chronischen Erkrankungen und von somatischen zu psychischen Störungen. Die meisten Kinder sind heute körperlich gesund, aber Entwicklungs- und Verhaltensstörungen, psychische Auffälligkeiten, Allergien, Übergewicht und Bewegungsmangel haben zugenommen. Dies ist häufig auf wenig förderliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen zurückzuführen. Die Zukunft eines Kindes ist erheblich davon beeinflusst, in welche soziale Lage es hineingeboren wird.

Alle Eltern wollen selbstverständlich gut für ihre Kinder sorgen und ihnen einen guten Start ins Leben ermöglichen. Aber nicht alle Familien schaffen es aus eigener Kraft, ihren Kindern dies zu ermöglichen. Sei es, weil Eltern in ihrer Kindheit selbst Misshandlung und Vernachlässigung erlebt haben, sich ständig sorgen müssen, weil sie unter besonderen Belastungen stehen, weil das Familienauskommen nicht gesichert ist oder sei es weil sie unter einer psychischen Erkrankung leiden, die ein empathisches Wahrnehmen der kindlichen Grundbedürfnisse aus eigenen Kräften nicht ermöglicht. Die Probleme sind vielschichtig und haben auch oftmals mit dem sozialen Milieu zu tun, aus dem eine Familie kommt. Je prekärer die Familiensituation ist und je weniger Unterstützung die Familien in ihrer nächsten Umgebung erfahren, umso eher kann sich dies auch negativ auf die Entwicklung des Kindes niederschlagen.

Seit 2007 werden deshalb die Frühen Hilfen bundesweit ausgebaut. Die systematische Zusammenarbeit zwischen dem Gesundheitssystem und der Kinder- und Jugendhilfe gehört dabei von Anfang an zu den zentralen Zielen der Frühen Hilfen. Seither konnte viel auf den Weg gebracht werden. Die Frühen Hilfen wurden im Bundeskinderschutzgesetz verankert und derzeit bereiten Bund, Länder und Kommunen sogar eine Verstetigung der Frühen Hilfen – abgesichert durch einen dauerhaften Fonds – ab 2016 in Deutschland vor.

In dem häufig zitierten afrikanischen Sprichwort „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“, steckt eine ganze Menge Wahrheit. Diese Grundidee liegt auch den Frühen Hilfen zugrunde. In einem solchen Dorf kennen sich die Menschen untereinander, fühlen sich füreinander verantwortlich und kümmern sich deshalb auch alle gemeinsam um das Wohl der Kinder. Dementsprechend haben die Frühen Hilfen zum Ziel, dass sich diejenigen kennen, die Unterstützungsangebote für Familien in einer Region anbieten, um in einer Verantwortungsgemeinschaft für das Wohl der Kinder einzutreten und die Familien bei der Förderung einer gesunden Entwicklung ihrer Kinder zu unterstützen.

So arbeiten in einem Netzwerk Frühe Hilfen unterschiedliche Träger und Professionen mit ihren jeweils spezifischen Angeboten zusammen. Da gibt es die öffentlichen und die Freien Träger, Hilfen aus unterschiedlichen Systemen wie dem Gesundheitssystem und der Kinder- und Jugendhilfe mit ihren spezifischen Professionslogiken, Angebote von Expertinnen und Experten, aber auch von Laien, um nur einige Differenzierungen zu nennen. Im Vergleich mit anderen Ländern haben wir in Deutschland nämlich nicht das Problem, dass es uns an Vielfalt von Unterstützungsangeboten mangelt, sondern vielmehr, dass diese nicht miteinander vernetzt und aufeinander abgestimmt sind. Dafür sind in allen Kommunen mittlerweile Netzwerke Frühe Hilfen aufgebaut. In ihnen werden die kommunalen Angebote der Familien koordiniert und an ihren Bedarfen orientiert. Vor allem ist es auch die Aufgabe dieser Netzwerke, eine gemeinsame Sprache und Verständigung zwischen den jeweiligen Professionen herzustellen.

Aber wie erfahren die Familien überhaupt von den Angeboten und wie erhalten insbesondere die belasteten Familien Zugang zu ihnen? Hier kommt den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten eine wichtige Funktion zu. Neben den Geburtskliniken, Hebammen und Schwangerschaftsberatungsstellen sind Sie – die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte mit den Tätigkeitsschwerpunkten in der hausärztlichen und familienmedizinischen Versorgung, der Gynäkologie sowie der Psychotherapie – wichtige Partner in den Netzwerken. Hierzu zählen insbesondere auch die Pädiaterinnen und Pädiater, die die Früherkennungsuntersuchungen für Kinder durchführen und daher in der Fläche die Arztgruppe stellen, die den größten Teil der Kinder von Geburt an im ambulanten Setting betreut. Sie haben in der Regel einen frühen Zugang, ihnen vertrauen die Familien. Deshalb können sie bei Bedarf besonders gut in familienunterstützende Hilfen im Netzwerk Frühe Hilfen hinweisen.

Gerade die in fast allen Bundesländern eingeführten verbindlichen Einladewesen zur Steigerung der Inanspruchnahme der Früherkennungsuntersuchungen ermöglichen einen Zugang zu fast allen Familien und ihren Kindern. Bereits 2009 kam der Sachverständigenrat zu dem Entschluss, dass der Erfolg dieses Instruments jedoch maßgeblich von „… einer interdisziplinären Verständigung über Grundlagen der Gefährdungseinschätzung familiärer Risiken für die kindliche Entwicklung, über Voraussetzungen und Verfahrensschritte bei einer notwendigen Weitergabe von Informationen sowie die Information aller beteiligten Akteure über die verschiedenen vorhandenen Hilfsangebote in den jeweiligen Bereichen“ abhängig ist. Als Bilanz lässt sich festhalten, dass die Erreichbarkeit zu allen Familien dadurch zwar erleichtert wurde und Entwicklungsstörungen bei Kindern auch früher festgestellt werden, aber eine effektive Nutzung dieses Zugangs und der Vermittlung von weitergehenden Hilfen im Sinne der Frühen Hilfen dennoch aussteht.

Daher haben wir vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden Württemberg ein Projekt auf den Weg gebracht, das die Zusammenarbeit der niedergelassenen Ärzte und Ärztinnen und der kommunalen Angebote der Kinder- und Jugendhilfe systematisch fördert. Auch wurde eine Struktur entwickelt, die in das vorhandene Versorgungssystem integriert werden kann. Auf dieser Tagung wird Ihnen das Modell von den an der Entwicklung beteiligten Partnern vorgestellt.

Wir danken dem BKK Landesverband Süd für sein Engagement in Baden-Württemberg und möchten mit Ihnen heute diskutieren, inwieweit es auch ein Modell für andere Bundesländer und insbesondere für andere Krankenkassen sein kann - natürlich mit den jeweiligen spezifischen Anpassungen an die örtlichen Strukturen - mit dem Ziel, die Zusammenarbeit der niedergelassenen Ärzteschaft mit der Kinder- und Jugendhilfe in den Frühen Hilfen strukturell zu verankern.

Ich wünsche allen Anwesenden einen interessanten Austausch. Ich hoffe, dass wir unserem Ziel, dieses Modell auf andere Länder, möglichst schließlich auf das ganze Bundesgebiet auszudehnen, mit dieser Tagung einen Schritt näher kommen werden.