Zusammenfassung der Tagung – Inhalte und Ergebnisse
Auf der Tagung wurden Ergebnisse des Modellprojekts zu Frühen Hilfen in vertragsärztlichen Qualitätszirkeln in Baden-Württemberg aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Dabei standen folgende Fragen im Vordergrund: Welche Bedeutung hat das Projekt im Kontext der Frühen Hilfen und angesichts der gesundheitlichen Situation von Kindern aus belasteten Familien in Deutschland? Wie wurde es entwickelt und implementiert und wie genau verlaufen die Qualitätszirkel in der Praxis? Wie bewerten Krankenkassen und Kinder- und Jugendhilfe diese Form der Zusammenarbeit aus ihrer Sicht? Und wie kann das Modellprojekt als Vorbild für eine bundesweite Etablierung dienen?
Im Folgenden finden Sie eine Zusammenfassung der Tagungsinhalte und -ergebnisse. Die Kernaussagen der Redebeiträge sind in diese Zusammenfassung eingeflossen.
Gemeinsam für das Wohl der Kinder eintreten
Die Brücke von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten zur Kinder- und Jugendhilfe
Über den Tellerrand hinausschauen
Das Modellprojekt „Interprofessionelle Qualitätszirkel“
Nutzen und Vorteile aus Sicht von Krankenkasse und Jugendhilfe
Das Modellprojekt in der Praxis – Implementierung und Umsetzung
Familienkonferenzen und Instrumente der Fallfindung
Gemeinsam für das Wohl der Kinder eintreten
Das Modellprojekt zu Frühen Hilfen in vertragsärztlichen Qualitätszirkeln in Baden-Württemberg setzt an dem zentralen Anliegen der Frühen Hilfen an: Jedes Kind soll von Anfang an die faire Chance haben, gesund aufzuwachsen. In der frühen Kindheit werden Weichen gestellt, die weit in die Zukunft reichen. Die meisten Kinder in Deutschland sind körperlich gesund und starten zuversichtlich und mit Vertrauen ins Leben. 10 bis 20 Prozent aber haben aufgrund ungünstiger Startbedingungen geringere Chancen auf ein gesundes und erfolgreiches Leben. Wie die Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Prof. Dr. Elisabeth Pott, betonte, hat sich das Krankheitsspektrum bei Kindern in den letzten Jahrzehnten entscheidend verändert: „Die sogenannte „neue Morbidität“ zeigt sich in einer Verschiebung von akuten zu chronischen Erkrankungen und von somatischen zu psychischen Auffälligkeiten und Störungen.“ Entwicklungs- und Verhaltensstörungen, psychische Auffälligkeiten, Übergewicht und Bewegungsmangel haben gerade bei Kindern in belastenden sozialen Lebenslagen zugenommen.
Die Zukunft vieler Kinder steht und fällt mit den sozialen Rahmenbedingungen, in die sie hineingeboren werden. Armut, Isolation und unzureichende Bildung gelten als Hauptgründe für schlechte Startbedingungen. Je prekärer die Situation, desto stärker schlägt sich dies auf die Familien und damit auf die Entwicklung der Kinder nieder. Vor diesem Hintergrund kommt den Frühen Hilfen die Aufgabe zu, in einer Verantwortungsgemeinschaft für das Wohl der Kinder einzutreten, betonte Prof. Pott. Es mangelt nicht an einer Vielfalt der Angebote, die Eltern zur Verfügung stehen. Häufig ist es für Eltern jedoch schwierig, sich zu orientieren. Die Netzwerke Frühe Hilfen dienen genau dazu: Orientierung zu bieten und passgenaue Hilfen zu vermitteln. Dies hob die Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Caren Marks hervor. „Die Anforderungen an die Hilfen sind durch die unterschiedlichen Lebenssituationen von Familien stets verschieden“, erklärte sie. Entscheidend ist, dass diese Hilfen möglichst frühzeitig dort ankommen, wo sie benötigt werden. Der Kooperation mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten der familienmedizinischen Versorgung im Bereich der Frühen Hilfen kommt hier eine besondere Bedeutung zu.
Die Brücke von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten zur Kinder- und Jugendhilfe
Gerade Pädiaterinnen und Pädiater haben frühen und vertrauensvollen Zugang zu den Kindern und Familien und eignen sich in besonderer Weise, Familien auf Frühe Hilfen aufmerksam zu machen. Wie Dr. Andreas Gassen, Vorstandvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und Mitveranstalter der Tagung, erklärte, werden Entwicklungsstörungen von Kindern und Schwierigkeiten in Familien oft in den kinderärztlichen Praxen erkannt. Kinder- und Jugendärzte und -ärztinnen sehen sich zunehmend mit der Situation konfrontiert, dass belastete Familien in die Praxen kommen und Konflikte oder Probleme in den Familien eine wichtige Rolle für den Krankheitsverlauf spielen. „Hier stoßen Ärztinnen und Ärzte mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mittel an Grenzen“, so Dr. Gassen. Medizinische Hilfen alleine reichen häufig nicht aus, um die gesunde Entwicklung der Kinder nachhaltig zu fördern.
Ärztinnen und Ärzten fehlt es jedoch an ausreichenden Informationen über weiterführende Hilfen. Zudem fehlt im präventiven Bereich meist der Kontakte zur Kinder- und Jugendhilfe. Dies bestätigt auch ein Meinungsbild, das die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg im Vorfeld des Modellprojektes bei Ärztinnen und Ärzten, die an Qualitätszirkeln teilnehmen, eingeholt hat. Hinzu kommt, dass eine direkte Überleitung in die Frühen Hilfen aufgrund unterschiedlicher Strukturen der beiden Systeme erschwert ist. Auch eine gemeinsame Sprache zwischen den Disziplinen muss gefunden werden.
Über den Tellerrand hinausschauen
„Jede Familie benötigt einen individuellen Mix an Hilfen aus unterschiedlichen Leistungssystemen. Doch das hört sich leichter an, als es in der Praxis bewerkstelligt werden kann“, erklärte Annette Widmann-Mauz, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit. Ärztliche Qualitätszirkel können helfen, die Kooperation zwischen dem Gesundheitswesen und der Jugendhilfe zu stärken. Verbesserung kann dann gelingen, wenn beide Systeme über den Tellerrand hinausblicken und ein Bewusstsein für die gemeinsame Verantwortung entwickeln. Wichtig ist dabei, über Angebote und Leistungen, aber auch über die Grenzen der Systeme Bescheid zu wissen. Das Modellprojekt in Baden-Württemberg zeigt, dass dies gelingen kann. Hier wurden keine neuen Strukturen geschaffen, sondern bestehende, gut funktionierende Kooperationsgefüge als Plattform genutzt: ärztliche Qualitätszirkel haben sich zur Jugendhilfe hin geöffnet und systemübergreifende Kooperation ermöglicht. Dies kann auch Impulse setzen für die Zusammenarbeit mit Professionen anderer Fachgebiete, so Annette Widmann-Mauz.
Die Skepsis mancher Medizinerinnen und Mediziner gegenüber einer Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe im Rahmen des Modellprojekts in Baden-Württemberg war zunächst groß. Doch trotz aller Hürden und Unterschiede: Es funktionierte. Der Grund: „In den Qualitätszirkeln arbeiten Menschen zusammen und nicht Institutionen“, wie Dr. Gassen hervorhob.
Das Modellprojekt „Interprofessionelle Qualitätszirkel“
Den Impuls für die Etablierung interprofessioneller Qualitätszirkel setzte Prof. Dr. med Marcus Siebolds, Sysco GmbH, bereits 2009 gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW). 2010 beauftragte das NZFH die Kassenärztliche Vereinigung BW mit der modellhaften Erprobung der Zusammenarbeit von Vertragsärztinnen und -ärzten und Mitarbeitenden der Kinder- und Jugendhilfe im Bereich der Frühen Hilfen. In der Zusammenarbeit zwischen KV und NZFH konnten auch die Berufsverbände und die Kommunalen Spitzenverbände für das Projekt gewonnen werden. Sie alle befürworteten die Durchführung des Modellprojektes nachdrücklich, wie Roland Müller, Kassenärztliche Vereinigung Baden Württemberg, betonte.
Voraussetzung war, an bestehende Strukturen anzuknüpfen. Sie wurde durch das Konzept zur Einrichtung interprofessioneller Qualitätszirkel erfüllt. Ziel war es, Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und -therapeuten sowie Mitarbeitende der Jugendhilfe in ärztlichen Qualitätszirkeln zu vernetzen und auf diese Weise ein gemeinsames fachliches Forum zu bilden. Dabei knüpfte Prof. Siebolds an das Konzept moderierter ärztlicher Qualitätszirkel an, die es in Deutschland bereits seit 20 Jahren als etablierte Struktur gibt. Unterstützt wurde die Vernetzung durch die Einrichtung einer Koordinierungsstelle bei der KVBW. Ein Projektbeirat wurde gebildet, der sich aus Berufsverbänden, Kammern, Moderierenden der Qualitätszirkel, Kommunalen Spitzenverbänden, Krankenkassen, dem Sozialministerium, dem Kommunalverband Jugend und Soziales in BW (KVJS), wo die Landeskoordinierungsstelle zur Bundesinitiative Frühe Hilfen angesiedelt ist und dem NZFH zusammensetzt. Moderatoren-Tandems wurden geschult und Qualitätszirkel eingerichtet, in denen nach der Methode der Familienfallkonferenz Unterstützungsmöglichkeiten für betreute Familien beraten wurden. Zwischenzeitlich konnte sogar ein Selektivvertrag mit dem BKK-Landesverband Süd zur Finanzierung ärztlicher Leistungen abgeschlossen werden. Honoriert werden die Fallfindung und die motivierende Beratung der Eltern durch die Ärztinnen und Ärzte. Diesbezügliche Vertragsinstrumente wurden entwickelt und die Ärztinnen und Ärzte darauf geschult. Zudem wird das Modellprojekt wissenschaftlich begleitet.
Nutzen und Vorteile aus Sicht von Krankenkasse und Jugendhilfe
Kindeswohl kennt keine Grenzen. Wie Sybille Aurig-Schramm, Stv. Abteilungsleiterin des BKK-Landesverbandes Süd, erklärte, musste zunächst nach einer gemeinsamen Rechtsgrundlage gesucht werden, die der BKK eine Kooperation und Finanzierung überhaupt ermöglichte. Es gehörte Mut und Freigeist dazu, die Hürden zu überwinden und sich über Beschränkungen hinwegzusetzen. Denn, so betonte sie: „Kindeswohl kennt keine Grenzen“. Ergebnis war eine dreiseitige Rahmenvereinbarung zwischen Kassenärztlicher Vereinigung Baden-Württemberg, BKK Landesverband und den Kommunalen Spitzenverbänden in Baden-Württemberg dem bis Ende November 2014 28 Bkk‘en beigetreten sind (aktuelle Liste der teilnehmenden BKK’en). Sie alle eint die Überzeugung, dass die Gesellschaft als Ganze davon profitiert, wenn Frühe Hilfen von Anfang an dort ankommen, wo sie benötigt werden. „Wir sind stolz, als erste Kassenart in Baden-Württemberg eine Rahmenvereinbarung abgeschlossen zu haben“, so Aurig-Schramm. „Aus Baden-Württemberg sollte ein Leuchtfeuer hervorgehen und damit ein positiver Flächenbrand möglichst in ganz Deutschland, damit sich überall solche Projekte etablieren“, betonte sie. Denn der Nutzen für die Krankenkassen ist groß: Die Qualitätszirkel fördern die Zusammenarbeit von niedergelassener Ärzteschaft und Jugendhilfe und stärken den präventiven Ansatz. Auf diese Weise können Belastungen frühzeitig erkannt, spätere gesundheitliche Schädigungen und Entwicklungsstörungen vermieden, Kosten reduziert und Leid und Benachteiligung von Kindern vermindert werden.
Wege entstehen dadurch, dass man sie geht. Auch von Seiten der Jugendhilfe wird der Nutzen des Modellprojekts als sehr hoch bewertet. Wie Ullrich Böttinger, Leiter Amt für Soziale und Psychologische Dienste, Landratsamt Ortenaukreis und Vertreter des Landkreistags Baden-Württemberg, erklärte, verbessern die interprofessionellen Qualitätszirkel den Zugang zur Jugendhilfe. Sie haben die Vernetzung in den Frühen Hilfen, die ohnehin Auftrag der Jugendhilfe ist, noch wesentlich gestärkt. Ermöglicht wird dies durch die Kommunikation beider Systeme auf Augenhöhe sowie das gegenseitige Erkennen und Anerkennen der Kompetenzen und Grenzen. Der Respekt vor der jeweiligen Profession wächst dadurch stark an. „Die gute Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen garantiert den Erfolg der Frühen Hilfen“, so Ullrich Böttinger. „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht und erfolgreiche Wege sollte man gemeinsam weitergehen“, schloss er in Anlehnung an Franz Kafka.
Das Modellprojekt in der Praxis – Implementierung und Umsetzung
„Was dieses Projekt so erfolgreich gemacht hat, ist die Bereitschaft der Beteiligten, sich irritieren zu lassen“, erklärte Prof. Dr. Siebolds, der mit der Konzeption und Durchführung des Modellprojekts beauftragt wurde. Bevor der organisatorische, vertragliche und finanzielle Rahmen von allen Beteiligten geschaffen wurde, ging es vor allem um eines: einen Raum zu öffnen, in dem Irritation auf beiden Seiten möglich ist und zu Entwicklung führt.
Zu Beginn der Projektentwicklung sahen sich die Initiatoren mit Unterschieden der beiden Systeme konfrontiert, die eine Vernetzung erschweren. Es galt, zwei nicht anschlussfähige Systemstrukturen zu vernetzen: die kommunale Selbstverwaltung und die Selbstverwaltung der Ärzte vertreten durch die Kassenärztlichen Vereinigungen. Die Vertragsärzteschaft und die Kinder- und Jugendhilfe folgen in ihrer Vorgehensweise unterschiedlichen Regelungen. So können Angebote der Frühen Hilfen von der Ärzteschaft nicht „verordnet“, sondern nur vermittelt werden. Häufig ist der Ärzteschaft der Unterschied eines reaktiven Vorgehens bei Kindeswohlgefährdung und eines präventiven Vorgehens im Bereich der Frühen Hilfen nicht bewusst. Wenn der Blick auf die Prävention gelenkt werden soll, stellt sich die Frage: Wie kann ein neuer Begriff einer Verantwortungsgemeinschaft entstehen? Hinzu kommen ungünstige Haltungen auf beiden Seiten, wie sich bei der Befragung von Ärztinnen/Ärzten und Mitarbeitenden der Jugendhilfe zeigte. Auch herrschen häufig gegenseitige Vorurteile vor, und es zeigt sich die Notwendigkeit einer Verständigung über die Einschätzung von Gefährdungssituationen. Das wichtige Thema Frühe Hilfen sollte im ärztlichen Alltag zwar behandelt werden, aber nicht zusätzlich belasten – gerade angesichts einer fehlenden Vergütung entsprechender Leistungen.
Vor diesem Hintergrund wurden drei zentrale Projektziele formuliert: 1. Stärkung einer Verantwortungsgemeinschaft Prävention, 2. Qualitätszirkel als Implementierungsplattform nutzen und 3. Entwicklung von Instrumenten, die eine Überleitung von der Arztpraxis in die Frühen Hilfen ermöglicht.
Familienfallkonferenzen und Instrumente der Fallfindung
Um die gesetzten Ziele zu erreichen, war es entscheidend, eine gemeinsame Haltung jenseits formaler Rollen zu entwickeln. Diese Haltung speist sich aus der gemeinsamen Motivation, eine ungünstige Entwicklung bei Kindern zu verhindern. Da ärztliche Qualitätszirkel bereits gut etabliert sind und als effizient gelten, wurde an diese bestehende Struktur angeknüpft. In weiteren Schritten wurde das Projekt auf die ärztlichen Qualitätszirkel zugeschnitten.
Auf die Moderatorenschulung folgte die Einführung von Familienfallkonferenzen in den neu etablierten „Qualitätszirkeln Frühe Hilfen“. Familienfallkonferenzen bieten die Möglichkeit, sich in offenem Dialog über unterschiedliche Einschätzungen der Ressourcen und Belastungen von Familien zu verständigen und durch das gemeinsame „Lernen am Fall“ Präventionsstrategien zu entwickeln. Als Instrumente der Fallfindung wurden zum einen ein Fragebogen mit 10 Fragen zur Selbstvergewisserung der Ärztinnen und Ärzte eingeführt. Ergänzt wird er zum anderen durch eine Orientierung für ein Elterngespräch im Sinne einer systemischen Kurzzeitintervention, die auf dem Prinzip der zweiseitigen Ansprache basiert: Gegenüber den Familien werden sowohl Wertschätzung als auch Besorgnis geäußert. Dabei geht es um eine Kontaktaufnahme ohne Druck. Im Rahmen der Evaluation äußerten Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte den starken Wunsch, mehr Kompetenzen im Bereich Familienberatung zu erwerben, wie Prof. Siebolds erklärte. Dieser Wunsch erfordert kontinuierliche Schulungsangebote für die Ärzteschaft. Insgesamt hat sich die Familienfallkonferenz als ideale Startplattform erwiesen, um wirksam Kompetenzen im Bereich Frühe Hilfen zu stärken.
Erfahrungsbericht aus Heidelberg
Die Implementierung von interprofessionellen Qualitätszirkeln in Heidelberg konnte auf einer langen Tradition in der Kooperation von Medizin und Jugendhilfe aufbauen. Verbesserungen sollten vor allem in der Zusammenarbeit auf Fallebene erzielt werden. Dr. med. Andreas Scheffzek und Dipl.-Soz.päd. Iris Söhngen ließen sich als Moderatorentandem schulen und stellten das Projekt im Qualitätszirkel der Kinderärztinnen und -ärzte vor. Trotz aller Skepsis in der Ärzteschaft gab es bereits beim ersten Treffen viele Aha-Effekte über Zuständigkeiten, Arbeitsabläufe und Grenzen des jeweiligen Tätigkeitsfeldes, wie das Moderatorentandem erklärte. Familienhebammen und Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen traten dem Qualitätszirkel bei. Die Inhalte wurden an den Bedürfnissen der Teilnehmenden ausgerichtet: sie reichen von offenem Austausch über kontroverse Themen, interdisziplinäre Fallbesprechungen und Einladung von Experten bis hin zu informellem Austausch.
Der Durchbruch und Erfolg der Qualitätszirkel zeigte sich insbesondere darin, dass ein Wandel vom „Feindbild“ zum Kooperationspartner vollzogen wurde. Mit zunehmender Kenntnis über Rahmenbedingungen und Vorgehensweisen der jeweils anderen Seite wuchsen das wechselseitige Systemverständnis sowie die Bereitschaft zu engerer Vernetzung. Unterschiede wurden fortan genutzt, um interdisziplinäre Lösungen mit klarer Aufgabenverteilung zu finden. Für beide Seiten zeigte sich eine Entlastung im Arbeitsalltag im Hinblick auf u.a.: kurze Wege, persönlicher Bezug bei der Vermittlung von Familien in weiterführende Hilfen, mehr Zufriedenheit und Bestätigung der Arbeit mit dem Ergebnis einer besseren Unterstützung der Familien. Insgesamt bewerteten die Teilnehmenden den Interdisziplinären Qualitätszirkel als positiv und gewinnbringend.
Ausblick und Diskussion des Modellprojektes
Prof. Marcus Siebolds und Roland Müller entwarfen ein mögliches Szenario für eine langfristige Etablierung und den Ausbau des Modellprojektes. Dazu bedarf es der Schaffung von Strukturen und Kompetenzen. Zentral ist eine Förderung der Vernetzung und Kooperation der Selbstverwaltung der Kassenärztlichen Vereinigungen mit den kommunalen Spitzenverbänden. Die Rolle interessierter Krankenversicherungen in den Frühen Hilfen muss mit bedacht werden. Um das Projekt regional umzusetzen, ist es wichtig, über die regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen nachhaltige Strukturen zu entwickeln und etablieren. Dazu gehören auch tragfähige Multiplikatorenstrukturen auf der Ebene der Qualitätszirkel und Tandems.
Die Diskussion im Anschluss an die Vorstellung des Modellprojektes spiegelte das rege Interesse der Teilnehmenden wider. Impulse aus dem Plenum und offene Fragen wurden diskutiert. Dabei stand die Frage im Vordergrund: Ist die Etablierung von interprofessionellen Qualitätszirkeln nach Vorbild der KV Baden-Württemberg ein gangbarer Weg auch für andere Regionen? Entscheidend ist dabei, wie Strukturen so angelegt werden können, dass sie die Anschlussfähigkeit beider Systeme erlauben. Bei der Weiterleitung der Familien von der Arztpraxis in die Frühen Hilfen ist mehr Verbindlichkeit erforderlich, so ein Beitrag aus dem Plenum: Kann in Analogie zum grünen Rezept ein „gelbes Rezept Frühe Hilfen“ entwickelt werden?
Auch wurde die Sorge geäußert, dass die Ärzteschaft für ihr Engagement nicht adäquat honoriert wird. Die Krankenkassen könnten ärztliche Leistungen wie den Fallfindungsbogen und die Elternberatung finanzieren, nicht jedoch die Teilnahme an Qualitätszirkeln. Zu klären ist dabei, worin die ärztlichen Leistungen bestehen und wie diese abbildbar sind. Der Durchbruch besteht darin, die Überleitung in die Frühen Hilfen als ärztliche Leistung anzuerkennen. In einem zweiten Schritt könnten dann Verhandlungen über die Vergütung erfolgen.
Um dem möglichen Aufbau einer singulären Struktur Gesundheitswesen-Jugendhilfe vorzubeugen, so weitere Anregungen aus dem Plenum, sei es wichtig eine Brücke von den interprofessionellen Qualitätszirkeln zu den Strukturnetzwerken zu schlagen. Zudem können die Qualitätszirkel möglicherweise als Blaupause für andere Hilfesysteme wie z.B. die Pflege älterer Menschen dienen.