Grußwort
Begrüßung durch Heidrun Thaiss, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)*
Stellt die Frühe Kindheit Weichen? Ohne den Referentinnen und Referenten der Konferenz vorgreifen zu wollen, beantworte ich die Frage bereits an dieser Stelle mit einem eindeutigen Ja! Denn die Bedeutung der Erfahrungen in der frühen Kindheit ist wissenschaftlich belegt, wie die Tagungsbeiträge zeigen. Aus diesem Grund setzen Bund, Länder und Kommunen bereits seit vielen Jahren umfangreiche Aktivitäten in den Frühen Hilfen um. Hierzu hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) mit dem Aktionsprogramm Frühe Hilfen (2007–2010), dem Bundeskinderschutzgesetz (2012) und der Bundesinitiative Frühe Hilfen (2012–2015) wichtige Impulse gegeben. Eltern sollen so früh wie möglich – schon ab der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren des Kindes – erreicht werden. Vor allem belastete Familien sollen durch diese Hilfen Unterstützung erfahren, um so für alle Kinder förderliche Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen. Mit der Einrichtung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH), getragen von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Kooperation mit dem Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI), hat das BMFSFJ dafür gesorgt, dass der Auf- und Ausbau der Frühen Hilfen kontinuierlich durch Forschung begleitet und die Praxisentwicklung unterstützt wird. Hierbei ist der Beirat des NZFH mit Mitgliedern aus Wissenschaft und Praxis ein wertvoller Ratgeber. Zwei zentrale Produkte des Beirats – die »Begriffsbestimmung Frühe Hilfen« (2009) und das »Leitbild Frühe Hilfen« (2014) – sind wichtige Leitplanken in der Qualitätsentwicklung Früher Hilfen. Begriffsbestimmung und Leitbild wurden von der Praxis dankbar rezipiert und bilden die Grundlage für zahlreiche regionale und kommunale Konzepte Früher Hilfen. Sie beziehen sich u. a. auf Erkenntnisse der Modellprojekte Frühe Hilfen (2007–2010). Diese wurden im Rahmen des Aktionsprogramms in allen Bundesländern etabliert, um die an vielen Standorten in Deutschland bereits vorhandenen Ansätze Früher Hilfen zu evaluieren und weiterzuentwickeln. Eine Finanzierung gemeinsam von Bund, Ländern, Gebietskörperschaften und in einzelnen Fällen auch von Verbänden, Stiftungen oder kirchlichen Einrichtungen stellte die Initiative auf eine breite Basis. Alle Projekte bestanden aus zwei Komponenten: dem Praxisangebot Frühe Hilfen und seiner wissenschaftlichen Begleitung, die vom NZFH aus Mitteln des BMFSFJ gefördert wurde. In den Ländern Hessen und Saarland wurde die Wirksamkeit des Praxisprojekts »Keiner fällt durchs Netz (KFDN)« durch die Evaluationsstudie »Frühe Interventionen für Familien – PFIFF« untersucht. Projektleiter war Prof. Dr. med. Manfred Cierpka.
In »Keiner fällt durchs Netz« findet zum Zeitpunkt der Geburt im Rahmen der medizinischen Versorgung in Geburtskliniken eine erste Einschätzung der psychosozialen Belastungen der Familien statt. Familien mit hohem Unterstützungsbedarf wird Familienhebammenhilfe angeboten, die aus regelmäßigen Hausbesuchen bis zum Ende des ersten Lebensjahres besteht. Zusätzlich zu Aspekten der gesundheitlichen Versorgung fördern die Familienhebammen elterliche Kompetenzen, indem sie den Familien psychosoziale Inhalte des u. a. von Prof. Cierpka entwickelten Elternkurses »Das Baby verstehen« vor Ort im häuslichen Umfeld vermitteln. Außerdem wurden in allen beteiligten Landkreisen Koordinationsstellen und ein »Netzwerk für Eltern« etabliert. Die Evaluationsstudie zu »Keiner fällt durchs Netz« zeichnete sich durch ein anspruchsvolles Forschungsdesign aus. Über mehrere Messzeitpunkte wurden Mütter mit ihren Kindern begleitet, um festzustellen, ob die Familienhebammenhilfe eine positive Wirkung zum einen auf die Eltern-Kind-Interaktion und zum anderen auf die Entwicklung des Kindes hat. Auf der Netzwerkebene wurde überprüft, wie erfolgreich der Aufbau von Kooperationsstrukturen in den »Netzwerken für Eltern« war. Die Erkenntnisse aus diesem und weiteren Modellprojekten Früher Hilfen zu den Netzwerken und insbesondere zum Einsatz von Familienhebammen fanden Eingang in die Beratungen zum Bundeskinderschutzgesetz und wurden auch bei der Ausgestaltung der Bundesinitiative Frühe Hilfen berücksichtigt. Frühe Hilfen sind somit ein gutes Beispiel für eine gelungene Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in politisches Handeln.
Die Forschung im Rahmen des Aktionsprogramms hat gezeigt, wie viel Bedarf auch weiterhin an gesicherten Erkenntnissen zu Gelingensfaktoren von Frühen Hilfen besteht. Deshalb wurde vom NZFH ein umfangreiches Forschungsprogramm begleitend zur Bundesinitiative aus Mitteln des BMFSFJ auf den Weg gebracht. In zwei Beiträgen der Tagung werden Studien zur Bundesinitiative vorgestellt. Frau Prof. Dr. Sabine Walper, Forschungsdirektorin unseres Kooperationspartners DJI, präsentiert erste Ergebnisse der Prävalenzstudie zu Belastungen in den Familien. Herr Prof. Dr. Gottfried Spangler, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, stellt eine Längsschnittstudie zum Einfluss der familiären Belastung auf die kindliche Entwicklung vor. Wir blicken aber auch über den Tellerrand der Frühen Hilfen und der Entwicklung in Deutschland hinaus. Erkenntnisse unter anderem aus der psychoanalytischen, entwicklungspsychologischen und neurobiologischen Forschung bereichern unser Verständnis von früher Kindheit und verdeutlichen, was dafür spricht, gerade dieser Phase so viel Bedeutung beizumessen. Diese multiprofessionelle und interdisziplinäre Perspektive auf die frühe Kindheit wird durch die Einordnung von Frau Prof. Dr. med. Ute Thyen, Vorsitzende des NZFH-Beirats, zur Forschung für hochbelastete Familien in Deutschland vervollständigt und abgerundet.
Ich bin mir sicher, dass auch der Mitinitiator der Veranstaltung, Prof. Dr. med. Manfred Cierpka, die Leitfrage dieser Tagung »Stellt die Frühe Kindheit Weichen?« in seinem Beitrag und seiner Abschiedsvorlesung zur Psychosozialen Prävention mit einem deutlichen Ja beantworten wird. Es freut mich sehr, dass er dem NZFH die Idee unterbreitet hat, im Rahmen eines Kongresses die Erkenntnisse aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen zur frühen Kindheit zusammenzutragen. Deswegen führen wir gemeinsam mit dem Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie des Universitätsklinikums Heidelberg, viele Jahre Ort seines Wirkens, diesen Kongress durch. Ich freue mich, dass sich das Marsiliuskolleg der Universität Heidelberg an der Förderung dieser herausragenden wissenschaftlichen Tagung beteiligt.
Der vorliegende Tagungsbegleiter dokumentiert die Vorträge der Tagung und fasst zentrale Ergebnisse kurz und prägnant zusammen. In erster Linie ist der Tagungsbegleiter aber ein herzliches »publiziertes Dankeschön« an Herrn Prof. Dr. med. Manfred Cierpka für sein jahrzehntelanges Engagement in der Psychosozialen Prävention, seine Pionierarbeit in den Frühen Hilfen in Deutschland und nicht zuletzt seine fachliche Expertise, mit der er die Arbeit des NZFH-Beirats außerordentlich bereichert hat. Danken möchte ich auch den Autorinnen und Autoren bzw. Referentinnen und Referenten, durch deren Aufsätze dieser Tagungsbegleiter erst ermöglicht werden konnte.
* Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen wird getragen von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Kooperation mit dem Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI)