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Gesundheitliche Langzeitfolgen psychischer Traumatisierung in Kindheit und Jugend

Vortrag von Ulrich T. Egle, Freiburg

Mit Bowlbys Monografie im Auftrag der WHO (1951) kam in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine systematische Erforschung der Auswirkungen von Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch in Gang. Danach kann »eine längere Deprivation von mütterlicher Zuwendung in früher Kindheit ernste und weitreichende Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und damit für das ganze Leben eines Menschen haben«. Bereits vor über 50 Jahren beschrieben Kempe et al. (1962) einen Zusammenhang von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit und den Langzeitfolgen für die Gesundheit im Erwachsenenalter (»The battered-child syndrome«).

Risikofaktoren für die spätere Gesundheit

Mit dem Erscheinen der ersten Ergebnisse der prospektiven Kauai-Studie von Emmy Werner und Ruth Smith wurden Ende der 1970er und in den 1980er Jahren die Grundlagen für eine systematische Erforschung dieser Zusammenhänge gelegt (vgl. Werner, 1977; Werner u. Smith, 1992). Folgende wesentliche Risikofaktoren für die spätere Gesundheit kristallisierten sich heraus:

  • eine längere Trennung von der primären Bezugsperson im ersten Lebensjahr
  • die Geburt eines jüngeren Geschwisters in den ersten beiden Lebensjahren
  • ernste oder häufige Erkrankungen in der Kindheit
  • körperliche oder psychische Erkrankungen der Eltern
  • Geschwister mit einer Behinderung
  • chronische familiäre Disharmonie
  • Abwesenheit des Vaters
  • viele Umzüge und Schulwechsel
  • Trennung/Scheidung der Eltern
  • Wiederverheiratung und Hinzukommen eines Stiefvaters bzw. einer Stiefmutter
  • Verlust eines älteren Geschwisters oder eines engen Freundes
  • außerfamiliäre Unterbringung
  • Lern- oder Verhaltensstörungen

Auch schlechte finanzielle Rahmenbedingungen, ein niedriger Bildungslevel sowie Alkohol-, Drogen- oder andere psychische Erkrankungen seitens eines Elternteils führten zu einem erhöhten Risiko der Kinder für psychische Störungen oder kriminelles Verhalten bereits im jungen Erwachsenenalter. Werner und Smith (1992) stellten dabei für Jungen eine generell erhöhte Vulnerabilität für psychosoziale Belastungen im Säuglings- und Kindesalter im Vergleich zu Mädchen fest.

Trotz des Einwirkens einer Reihe der genannten Faktoren entwickelte sich etwa ein Drittel dieser »Risikokinder« zu leistungsfähigen und psychisch stabilen jungen Erwachsenen. Diese resilienten Kinder hatten in der frühen Kindheit kontinuierlich eine Hauptbezugsperson, von der sie viel Zuwendung bekamen. Sie wuchsen in Familien mit vier oder weniger Kindern auf und hatten zu den Geschwistern einen Altersabstand von mindestens zwei Jahren. Außerhalb der Familie fanden sie zudem emotionale Unterstützung bei Freunden, Verwandten, Nachbarn, »Lieblingslehrern« usw. Häufig hatten sie auch besonders positive Erfahrungen mit Gleichaltrigen (Peers) in Jugendgruppen gemacht. Bei den Jungen fiel auf, dass sie häufig die Ältesten waren und die Aufmerksamkeit der Eltern nicht mit vielen anderen Geschwistern teilen mussten. Nicht selten gab es auch andere männliche Bezugspersonen in der Familie, die als Rollenmodelle dienten. Das Alltagsleben in der Adoleszenz war bei diesen Jungen durch Struktur, Regeln und kleinere Aufgaben geprägt.

Dass Jungen in der Kindheit hinsichtlich des Einwirkens ungünstiger Umweltbedingungen deutlich vulnerabler sind als Mädchen, wurde in anderen prospektiven Studien ebenso festgestellt wie die Bedeutung schlechter finanzieller Verhältnisse hinsichtlich einer späteren Vulnerabilität für psychische Erkrankungen. In zwei prospektiven Studien in New York wurden die Langzeitfolgen von körperlicher Misshandlung und sexuellem Missbrauch in der Kindheit für die spätere psychische Vulnerabilität nachgewiesen. Die New Yorker Studie fand darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen täglich mehrstündigem Fernsehkonsum in der Kindheit und späterer Delinquenz, vor allem in Form fremdaggressiven Verhaltens (mit Dokumentation im New Yorker Polizeiregister). Auch die neuseeländische Studie brachte eine hochsignifikante Zunahme von fremdaggressivem Verhalten und Delinquenz als Folge eines kumulativen Einwirkens verschiedener Formen familiärer Dysfunktion (Übersicht bei Egle, 2015).

Die kumulative Wirkung von Belastungsfaktoren

In der größten europäischen Studie wurden alle zwischen dem 3. und 9. März 1958 geborenen Kinder in Großbritannien (N > 17 000) erfasst und über mehr als 45 Jahre in ihrer Entwicklung bis ins mittlere Erwachsenenalter verfolgt. Sexueller Missbrauch allein erhöhte das Risiko (Odds-Ratio, OR) für psychopathologische Auffälligkeiten im mittleren Erwachsenenalter (45 Jahre) um das 3,4-Fache, körperliche Misshandlung um das 2,6-Fache. Je mehr Belastungsfaktoren in der Kindheit einwirkten, desto größer wurde das Risiko, später an einer Angst- oder depressiven Störung zu erkranken (Clark et al., 2010). Auswertungen der prospektiven Dunedin-Studie in Neuseeland – eine Geburtenkohorte von 1027 aller zwischen April 1972 und März 1973 in Dunedin geborenen Kinder – erbrachten bei Zugrundelegung eines 32-jährigen Beobachtungszeitraums neben einem erhöhten Depressionsrisiko auch eine gesteigerte Vulnerabilität für immunologische und metabolische Erkrankungen als Folge von Misshandlung, sozialer Ausgrenzung und schlechten sozioökonomischen Verhältnissen in der Kindheit (Danese et al., 2009).

Einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenhang zwischen belasteter Kindheit und gesundheitlichen Langzeitfolgen erbrachte die kalifornische Adverse Childhood Experiences Study (ACE; Felitti et al., 1998) im Auftrag einer großen Krankenversicherung. Insgesamt wurden mehr als 17 000 Versicherte untersucht und dabei retrospektiv u. a. auch sorgfältig hinsichtlich des Einwirkens von insgesamt acht Kindheitsbelastungsfaktoren befragt. Neben sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung wurden ebenfalls emotionaler Missbrauch, Gewalt zwischen den Eltern, Scheidung bzw. Trennung der Eltern sowie Substanzmissbrauch, psychische Erkrankungen oder Kriminalität eines Elternteils erfasst. Das kumulative Einwirken von vier oder mehr dieser Kindheitsbelastungsfaktoren bewirkte ein zwei- bis vierfach erhöhtes Risiko, in fortgeschrittenem Erwachsenenalter an folgenden körperlichen Erkrankungen zu leiden:

  • Diabetes mellitus Typ 2
  • Schlaganfall
  • koronare Herzerkrankung
  • Hepatitis B
  • chronisch obstruktive Lungenerkrankung
  • Rachen- und Lungenkrebs

Im prospektiven Teil der ACE-Studie wurde dann in einem Zehn-Jahres-Beobachtungszeitraum untersucht, inwieweit diese Zusammenhänge letztlich zu Einschränkungen der Lebenserwartung führen können (Brown et al., 2009). Nachgewiesen werden konnte, dass sich das Risiko für in der Kindheit stark belastete Menschen 2,4-fach erhöht, vor dem 65. Lebensjahr zu sterben! Bei sechs und mehr der untersuchten Kindheitsbelastungsfaktoren lag die mittlere Lebens- erwartung bei 60,6 Jahren, während sie bei vollständigem Fehlen der erhobenen 8 Kindheits- belastungsfaktoren durchschnittlich 79,1 Jahre betrug. Erst jüngst konnten in einer britischen Studie an einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe (N = 3885) diese erhöhten Risiken für körperliche Erkrankungen als Folge des kumulativen Einwirkens von Kindheitsbelastungsfakto- ren weitgehend repliziert werden (Bellis et al., 2014).

Vermittelnde Faktoren für gesundheitliche Langzeitfolgen

Bei diesen – in ihrer Bedeutung weitreichenden – korrelativen Zusammenhängen von frühen Entwicklungsbedingungen und späterer Morbidität und Lebenserwartung ist hinsichtlich einer Kausalität die Klärung vermittelnder Faktoren erforderlich. Das verstärkte Auftreten psychischer Störungen sowie körperlicher Symptombildungen und Erkrankungen als Folge von Missbrauch, Misshandlung und emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit wird ganz wesentlich durch eine verstärkte Stressreaktion vermittelt (vgl. Overfeld u. Heim, 2015). Nachgewiesen werden konnten u. a. Funktionsänderungen der Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA) sowie des vegetativen Nervensystems, hinsichtlich des Blutspiegels und des Tagesrhythmus von Cortisol und Oxytocin sowie erhöhte Entzündungsparameter (Interleukin-6 und Tumor-Nekrose-Faktor alpha). Diese werden unter allostatic load (AL) subsumiert. Gesichert ist auch, dass es durch anhaltenden Disstress in Kindheit und Jugend zu Veränderungen der Größe und Funktion bestimmter Hirnbereiche kommt, vor allem im Bereich des Präfrontalkortex, der Amygdala, des vorderen Gyrus cinguli sowie des Hippocampus. Damit einher gehen Einschränkungen der Aufmerksamkeit sowie der Affekt- und Selbstregulation im Verhalten bei gleichzeitig erhöhtem Aktivitätslevel. Bei der Bewältigung von Alltagskonflikten verwenden Menschen mit belasteter Kindheit verstärkt unreife bzw. maladaptive Konfliktbewältigungsstrategien (Nickel u. Egle, 2006), welche das individuelle Stresserleben verstärken. In einer prospektiven Langzeitstudie über zwischenzeitlich 70 Jahre konnte an einer Kohorte von Harvard-Absolventen gezeigt werden, dass nicht nur beruflicher Erfolg und »glückliches Altwerden«, sondern auch Morbidität und Mortalität bzw. Lebenserwartung durch die Reife der verwendeten Konfliktbewältigungsstrategien wesentlich beeinflusst werden (vgl. Vaillant, 1976; Malone et al., 2013). Ein direkter Zusammenhang zwischen maladaptiven Bewältigungsstrategien und stressbezogenen psychischen sowie körperlichen Erkrankungen wurde in einer ganzen Reihe von Studien nachgewiesen (vgl. Olff et al., 2005). Danach kommt es durch maladaptive Bewältigungsstrategien zu einer ausgeprägteren und länger anhaltenden neuroen- dokrinen Stressreaktion.

Folge einer emotional deprivierten oder traumatisierten Kindheit sind Einbußen bei der Bewältigung phasenspezifischer Entwicklungsaufgaben. Dadurch werden soziale Kompetenz und Selbstwerterleben eingeschränkt. Durch gesundheitliches Risikoverhalten versuchen die Betroffenen ihre sowohl neurobiologisch als auch verhaltensbezogen erhöhte Stressvulnerabilität und ihr eingeschränktes Selbstwerterleben zu kompensieren. Früh einsetzender Nikotinkonsum, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Bewegungsmangel, ein Body-Mass-Index (BMI) ≥ 35 sowie häufig wechselnde Sexualpartner wurden hochsignifikant häufiger beobachtet (Felitti et al., 1998). Diese Risikoverhaltensweisen erhöhen – je nach Gewichtung und Kombination – das Risiko, dass die in der Adverse Childhood Experiences Study ebenso wie in der neueren britischen Studie gefundenen körperlichen Erkrankungen auftreten. So erhöht ein gesteigerter Energiebedarf des Gehirns (»brain-pull«) aufgrund einer anhaltenden Aktivierung des Gehirnstoffwechsels bei der Verarbeitung von Disstress den Energiebedarf und führt über ein erhöhtes Nahrungsverlangen (»body-pull«) zu Gewichtszunahme und damit zur Steigerung des BMI.

Ein BMI ≥ 35 in Verbindung mit Bewegungsmangel erhöht das Risiko, eine kardiovaskuläre Erkrankung und/oder einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln. Dieser – früher »Altersdiabetes« genannt – tritt immer häufiger bei emotional deprivierten Jugendlichen auf (Kempf et al., 2008; Pouwer et al., 2012). Die Kombination von Rauchen und Alkohol erhöht das Risiko für Pharynx- Karzinome. Permanent wechselnde Sexualpartner zur Kompensation von Selbstwertdefiziten steigern aufgrund der Virusgenese das Risiko für die Entwicklung eines Cervix-Karzinoms, frühes Rauchen jenes für ein Bronchial- und Lungen-Karzinom usw. All diese Erkrankungen sind in der Lage, die Lebenserwartung einzuschränken.

Schlussfolgerungen

Das Center of Disease Control (CDC) beziffert – bei eher konservativer Bewertung der lebenslangen Auswirkungen – die gesundheitsbezogenen und volkswirtschaftlichen Folgekosten allein für die im Jahr 2008 in den USA misshandelten Kinder mit 124 Mrd. Dollar (Fang et al., 2012). Dies macht die Notwendigkeit von Prävention im Sinne Früher Hilfen sehr deutlich, die trotz gut belegter Wirksamkeit in Modellprojekten (vgl. Cierpka, 2015) bis heute in der Breite politisch nicht hinreichend angegangen bzw. umgesetzt wird. Die in den letzten Jahren enorm gestiegene Rate von AU-Tagen und Frühberentungen aufgrund psychischer und psychosomatischer Störungen dürfte aus rein ökonomischen Zwängen in absehbarer Zeit zu einem Umdenken auch in der Gesundheitspolitik führen. Die Zeiten eines einseitigen Festhaltens am gegenwärtigen »Reparaturbetrieb« werden wohl bald der Vergangenheit angehören.

Literatur:

Bellis, M.A., Lowey, H., Leckenby, N., Hughes, K., Harrison, D. Measuring mortality and the burden of adult disease associated with adverse childhood experiences in England: a national survey. J Public Health (Oxf) 2014; 36:81–91.

Bowlby, J. Maternal care and mental health. Bull World Health Organ 1951; 3(3): 355–533.

Brown, D.W., Anda, R.F., Tiemeier, H., Felitti, V.J., Edwards, V.J., Croft, J.B., et al. Adverse childhood experiences and the risk of premature mortality. Am J Prev Med. 2009; 37:389–396.

Cierpka, M. Psychosoziale Prävention – ein Mehr-Ebenen-Ansatz. In: Egle, U.T., Joraschky, P., Lampe, A., Seiffge-Krenke, I., Cierpka, M. (Hrsg.). Sexueller Missbrauch, Miss- handlung, Vernachlässigung. Erkennung, Therapie und Prävention der Folgen früher Stresserfahrungen. Schattauer, Stuttgart 2015.

Clark, C., Caldwell, T., Power, C., Stansfeld, S.A. Does the influence of childhood adversity on psychopathology persist across the lifecourse? A 45-year prospective epidemiologic study. Ann Epidemiol. 2010; 20:385–94.

Danese, A., Moffitt, T.E., Harrington, H., Milne, B.J., Polanczyk, G., Pariante, C.M., et al. Adverse childhood experiences and adult risk factors for age-related disease: depression, inflammation, and clustering of metabolic risk markers. Arch Pediatr Adolesc Med 2009; 163:1135–43.

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Werner, E.E., Smith, R.S. Overcoming the Odds: High Risk Children from Birth to Adulthood. University Press Ithaca, NY: Cornell 1992.

Publikation - Tagungsbegleiter "Stellt die frühe Kindheit Weichen?"

Hrsg.: Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH), Köln, 2015