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Forum 3 – Babylotse Hamburg und Babylotse PLUS Berlin

„Babylotse PLUS“ in der Berliner Charité entstand in enger Kooperation mit  „Babylotse Hamburg“ am Kinderkrankenhaus Wilhelmstift. Beide Kliniken setzen Babylotsen als Bindeglied zwischen den Kliniken und dem Netzwerk Frühe Hilfen ein. Sie sind Ansprechpartner für die Mütter vor und nach der Geburt und stellen bei Bedarf den Kontakt zu weiterführenden Hilfen her.

Babylotse Hamburg, Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift

Zusammenfassung des Vortrags von Dr. med Sönke Siefert

Das Programm Babylotse Hamburg nahm seinen Anfang nach Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, die 2002 Öffentlichkeit und Fachwelt aufrüttelten. Wir tun zu wenig, lautete das Fazit. Alarmierende Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, die steigende Zahl unsicherer Eltern und wachsende Kinderarmut prägten die öffentliche Wahrnehmung. Gleichzeitig war das Bewusstsein für den Kinderschutz gestiegen.

„Die perinatale Mortalität in Deutschland ist nur noch mit psychosozialen Maßnahmen weiter zu senken“

(Im Vortrag zitiert: PD Dr. med. Holger Maul, Chefarzt Geburtshilfe im Marienkrankenhaus Hamburg)

Dem Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift, das zur Ansgargruppe gehört, sind zwei Perinatalzentren und drei Geburtskliniken angeschlossen. Im Jahr 2013 kamen hier ca. 6500 Kinder zur Welt. Ebenfalls der Gruppe angeschlossen ist das Marienkrankenhaus Hamburg mit 3200 Geburten. Die Situation stellte sich vor zehn Jahren wie an vielen Kliniken dar: Es gab einen großen Anteil an Familien mit erhöhtem Versorgungsbedarf, doch waren keine Strukturen vorhanden, um die Familien an Unterstützungsangebote weiterzuleiten. Am Klinikum arbeitete neben dem medizinischen Personal nur eine Sozialarbeiterin. Vor diesem Hintergrund wurde nach einer zweijährigen Vorlaufzeit 2006 die Stiftung „See you – Stark für Familien“ gegründet, in die das wissenschaftlich begleitete Programm Babylotse integriert ist. Träger der Stiftung ist das Katholische Kinderkrankenhaus Wilhelmstift.

Babylotsen - Scharnier zwischen Gesundheitshilfe und Frühen Hilfen

Das Programm Babylotse fußt auf der Überzeugung, dass Eltern grundsätzlich gute Eltern sein wollen, einige aber auch mal scheitern können. Frühe Hilfen sind hierbei eine wirksame Unterstützung, denn Risikofaktoren lassen sich früh erkennen. Gleichzeitig werden protektive Faktoren berücksichtigt. Da Geburtskliniken großes Vertrauen bei den Eltern genießen, sind sie wichtige Partner der Frühen Hilfen. Das Programm Babylotse schließt die Lücke zwischen den beiden Systemen, indem es eine „Scharnierfunktion“ zwischen Gesundheitshilfe und Frühen Hilfen übernimmt.

Ziel von Babylotse Hamburg ist es, Eltern dabei zu unterstützen gut für ihre Kinder zu sorgen. Dazu bedarf es der Förderung einer gesunden Kindesentwicklung und einer engen Eltern-Kind-Bindung sowie der Stärkung der familiären Ressourcen. Erreicht werden kann dieses Ziel, wenn systematische und zuverlässige Zugänge zu den Eltern aus dem Gesundheitssystem heraus und eine Vernetzung zwischen den Systemen vorhanden sind. Die Hilfe für Eltern steht und fällt jedoch besonders mit einem: der wertschätzenden, respektvollen und emphatischen Haltung gegenüber allen Familien.

Erkennen – Klären – Vernetzen

Babylotsen sind sowohl stationär als auch ambulant tätig. Sie sind Ansprechpartnerinnen und -partner für die Eltern vor und nach der Geburt, beraten bei Fragen und Problemen und „lotsen“ die Familien bei Bedarf durch das vielfältige Netz möglicher Hilfen. Zudem stellen sie sicher, dass die Angebote auch erreicht werden.

Idealerweise ca. 6–10 Wochen vor der Geburt werden alle in der Klinik entbindenden Schwangeren mit einem psychosozialen Anhaltsbogen erfasst. Weist der Bogen auf eine psychosoziale Belastungssituation hin, gehen die Babylotsen aktiv auf die Mütter zu. Aktiv angesprochen werden Mütter, die sehr jung sind, wenig eigene Gesundheitsfürsorge (inkl. Suchtmittelabusus) und einen hohen Belastungsgrad zeigen.

Ca. 20 Prozent der Bögen machen eine Ansprache erforderlich, die nach bisherigen Erfahrungen ausnahmslos akzeptiert wird. In dem klärenden Gespräch geht es um die vorhandenen Ressourcen, den tatsächlichen Unterstützungsbedarf und die Bereitschaft der Mütter, Hilfen anzunehmen. Ist dies der Fall, vereinbaren die Babylotsen mit ihnen die weiteren Schritte. 5 Prozent der angesprochenen Familien bedürfen intensiver Begleitung durch Anschlussangebote der Netzwerke Frühe Hilfen. Um dies zu gewährleisten, erfordert die Organisation des Übergangs in die Frühen Hilfen und die Vernetzung einen sehr klar strukturierten Ablauf, wie Dr. Siefert betonte.

Weitere Informationen unter www.SeeYou-Hamburg.de

Babylotse Charité, Klinik für Geburtsmedizin, Charité Virchow + Charité Mitte, Berlin

Zusammenfassung des Vortrags von Oberärztin Dr. med. Christine Klapp

Babylotse PLUS entstand nach dem Vorbild von Babylotse Hamburg. In der Charité war bereits ein gut ausgebauter Sozialdienst vorhanden. Seit 1995 fanden regelmäßige Intervisionstreffen statt, an denen auch die Elternberatung, Psychosomatik/Krisenberatung und Seelsorge teilnahmen. Es gab schon einige konkrete Ideen, wie der Bedarf an Frühen Hilfen vor Entlassung aus der Klinik ermittelt werden konnte. Und es bestand Übereinkunft, dass Eltern erreicht werden müssen, die evtl. noch gar nicht abschätzen können, dass sie später Probleme bekommen könnten. Anfang 2010 bekamen die Geburtshelfer der Charité Kenntnis vom Babylotsenprojekt in Hamburg, das schon wesentliche Teile der hiesigen sehr ähnlichen Planung bereits umgesetzt hat und nahmen 2010 Kontakt mit der Stiftung See You auf. Das Programm Babylotse Hamburg wurde in den Folgejahren in Kooperation adaptiert und schließlich von der Bundesinitiative Frühe Hilfen unterstützt.

Praxis und Wissenschaft

Babylotse PLUS verbindet – wie Babylotse Hamburg – das Praxisprojekt mit einer wissenschaftlichen Studie, die die Gruppe der Eltern mit ihrem Kind mit Babylotsenbegleitung mit einer Kontrollgruppe ohne Babylotsenbegleitung (vor Einführung des Projekts) untersucht. In der praktischen Umsetzung befindet sich das Programm seit Anfang 2013. Ziele des Praxisprojektes sind die frühe Identifikation von bisher unauffälligen Frauen, “wobei auch ungute ‚Bauchgefühle’ von Hebammen und Krankenschwestern ernst genommen und damit wertgeschätzt werden“, so Dr. Christine Klapp. Hinzu kommen die passgenaue und präventive Unterstützung möglichst schon vor der Geburt, die Nutzung bestehender Hilfsstrukturen sowie die Ausweitung der Netzwerke und die Optimierung der Zusammenarbeit. Mit der begleitenden Forschung wird das Ziel verfolgt, weitreichend einsetzbare Instrumente zu entwickeln, mit denen der Bedarf zuverlässig ermittelt werden kann. Ein Jahr nach der Geburt werden u. a. Gesundheit und Entwicklung des Kindes, sowie gesundheitliche Lebensqualität und Belastung der Eltern bei einer „Interventionsgruppe“ und einer „Kontrollgruppe“ verglichen. Zusätzlich zu der vergleichenden Untersuchung beider Gruppen werden auch die Tätigkeiten der Babylotsen in Hinblick auf die Zufriedenheit der Eltern mit deren Arbeit evaluiert. Die Gesamtergebnisse werden zur Verbesserung der Handlungsstrategien für das Praxisprojekt und dessen Ausweitung auf andere Kliniken in Berlin genutzt.

Freiwillige Angebote für alle Familien

Bei der Kontaktaufnahme sprechen die Babylotsen alle Mütter/Familien bei der Schwangerenberatung oder auf der Entbindungsstation an. Mithilfe eines Screenings erfassen sie den Bedarf an möglichen Unterstützungsangeboten. Familien, die einen Score von drei und mehr Punkten erhalten, wird ein standardisiertes Erstgespräch angeboten. Auch Familien, die trotz eines niedrigeren Scores Hilfen wünschen, können die Beratung in Anspruch nehmen. Durch das Screening wurden 46 Prozent als belastet erfasst und fast 300 Fälle (15,6 Prozent) erkannt, die einen höheren Belastungsgrad aufwiesen und direkt dem Sozialdienst zugeführt wurden. Ohne das Screening wären sie unentdeckt geblieben. Es basiert auf der Mannheimer Längsschnittstudie, dem Düsseldorfer Projekt „Zukunft für die Familie“ und Babylotse Hamburg.

Im folgenden standardisierten Erstgespräch auf der Grundlage eines 9-seitigen Erhebungsbogens wird der konkrete Bedarf mit den Müttern besprochen und – die Zustimmung vorausgesetzt – weitere Schritte beraten und gemeinsam festgelegt. Die Babylotsen vermitteln passende Hilfeangebote sowohl innerhalb des Netzwerks in der Klinik selbst als auch in das Netzwerk Frühe Hilfen. In den ersten Monaten nach der Geburt erfassen sie mit Hilfe eines Monitorings, ob die Familien die Angebote wahrgenommen und als hilfreich empfunden haben.

Bilanz nach einem Jahr

Nach Ablauf des ersten Jahres 2013 sind die Screenings und Untersuchungen der ersten Kontroll- und Interventionsgruppen beendet und die Auswertungen laufen. 80 Prozent der entbindenden Frauen konnten mit dem Einschätzungsbogen erfasst werden; davon wiesen knapp 50 Prozent Unterstützungsbedarf auf. Nur ca. 1,2 Prozent der Familien lehnten weitere Unterstützungen ab.

Insgesamt zeigte sich, so Christine Klapp, dass Screening, weitere Beratung und Überleitung an das Netzwerk auf positive Resonanz stießen und gut angenommen wurden. Die Babylotsen konnten zudem Brücken zwischen den Familien und dem Sozialdienst bzw. dem Jugendamt bauen und damit Ablehnung vermindern. Das Engagement aller Beteiligten stellte zugleich eine große Herausforderung dar. Es galt u. a., eine hohe Arbeitsbelastung, die Verständigung mit Datenschutz-Institutionen, geringe finanzielle Ressourcen und den Aufbau der Netzwerke außerhalb der Kliniken zu bewältigen.

Diskussion

Im Anschluss an die beiden Kurzvorträge wurde die Möglichkeit zu Fragen und Diskussion rege in Anspruch genommen. Die Fragen konzentrierten sich insbesondere auf die konkrete Umsetzungspraxis. Einige Aspekte werden hier herausgegriffen.

Wie wird mit den Familien gesprochen?

Basis der Gesprächsführung, so Berlin und Hamburg, sei eine wertschätzende Haltung. Ist diese gegeben und wird auf Stigmatisierung verzichtet, erzählen die Frauen offen über ihre Probleme und sind froh, auf diese hinweisen zu können. Denn viele Familien, so Sönke Siefert, wissen sehr genau, wo ihnen der Schuh drückt. In Berlin mussten viele Hebammen allerdings erst überzeugt werden, dass das Ausfüllen des Screening-Bogens nützlich und sinnvoll ist und keinen erheblichen neuen Zeitaufwand bedeutet.  
Aus Datenschutzgründen, so Christine Klapp, darf in Screening und Erstgespräch nicht nach Namen und Daten des Vaters gefragt werden. Erfragt wird weniger ein konkreter Partner als vielmehr die partnerschaftliche Situation, in der die Frau lebt, im Sinne von „Fühlen Sie sich wohl und sicher?“

Frühe Hilfen – Imageschaden für die Klinik?

Im Plenum wurde der Fall eines Verwaltungschefs angesprochen, der die Aktivitäten für die Frühen Hilfen und damit auch die Einführung des Screening-Bogens innerhalb der Klinik blockiert. Seine Befürchtung: Was passiert, wenn ein Bogen nicht oder falsch ausgefüllt wird und ein Kind zu Schaden kommt? Was bedeutet das letztendlich für das Image der Klinik? Hier stellt sich die Gegenfrage, so Berlin und Hamburg, ob nicht viel eher die Gefahr besteht, dass ein Kind Schaden nimmt, wenn auf das Engagement für die Frühen Hilfen verzichtet wird. Wenn eine Klinik die Initiative ergreift, ist sie auf jeden Fall einen Schritt weiter als wenn sie nur die medizinische Grundversorgung anbietet, so Sönke Siefert. Wird beispielsweise in Berlin ein hoher Score ermittelt, die Mutter hat die Klinik jedoch schon verlassen, werden der Gesundheitsdienst und die Mutter kontaktiert. Generell, so das Fazit, sei ein Zuwachs an Geburten in denjenigen Kliniken zu verzeichnen, die solche Formen von auf familienorientierter Geburtshilfe setzen.

Wie kommt ein Score von drei Punkten zustande?

Der Screening-Bogen in Berlin ist so aufgebaut, dass einfach und schnell ein Ergebnis ermittelt wird. Eine Komponente des Fragebogens alleine führt nicht zu einem entsprechenden Score. Werden zwei oder mehrere Komponenten positiv beantwortet, ergibt dies einen Score von 3 Punkten. Ein Migrationshintergrund sei jedoch kein Risikofaktor an sich. Beispiel: Die Angabe „zwei Kinder unter 5 Jahre“ und „Rauchen“ ergibt bereits eine Risikobewertung. Angemerkt wurde, ob auf diese Weise nicht zu viele Frühe Hilfen notwendig würden.

Lässt sich ein Hilfebedarf vor der Geburt überhaupt abschätzen?

Diskutiert wurde die Frage, ob das Ausfüllen der Screeningbögen vor oder nach der Geburt erfolgen sollte. Ein Plenumsteilnehmer hielt die Erfassung des Hilfebedarfs nach der Geburt für sinnvoller. Die Vertreter von Babylotse Hamburg und Berlin plädierten eindeutig für ein Ansetzen so früh wie möglich. Nicht nur die Vorsorge bei den Kinderärztinnen und -ärzten, auch die Geburtshilfe komme fast schon zu spät. Bestenfalls sollte sogar schon in der Schwangerenvorsorge angesetzt werden.

Sind die Aktivitäten in Geburtskliniken nicht bereits Teil der Frühen Hilfen?

Das Selbstverständnis des Engagements von Babylotse Hamburg betont eher die „Scharnierfunktion“ zwischen den Systemen. Zwar sei die Ansprache durch Babylotsen Geburtskliniken schon ein Teil der Frühen Hilfen. Primäre Kompetenz und Aufgabe des Babylotsen-programms in Geburtskliniken sei jedoch das Erkennen, Ansprechen und Vermitteln zu weiterführenden Angeboten der Frühen Hilfen im kommunalen Netzwerk.