Verfahren, Erfahrungen und Ergebnisse aus der Analyse problematischer Fallverläufe im Kinderschutz in England und Deutschland
Gemeinschaftsvortrag von Dr. Sheila Fish, Social Care Institute for Excellence, London (GB), Christine Gerber, NZFH/DJI, Susanna Lillig, NZFH/DJI.
In dem Vortrag stellten Christine Gerber, Susanna Lillig und Dr. Sheila Fish die Kinderschutz-Systeme in Deutschland und England im Hinblick auf den konzeptionellen Rahmen und die Vorgehensweisen von systemorientierten Analysen problematischer Fallverläufe gegenüber. Ausgewählte Ergebnisse beider Länder zu Schwierigkeiten in der interdisziplinären und interinstitutionellen Zusammenarbeit im Kinderschutz wurden vorgestellt sowie mögliche Weiterentwicklungsbedarfe für die Kooperation in Kinderschutz-Fällen skizziert.
Fallanalysen im Kinderschutz – Deutschland und England
In Deutschland werden problematische Fallverläufe bisher nicht routinemäßig mit dem Ziel der Qualitätsentwicklung im Kinderschutz analysiert. Meist wird die fachliche Arbeit im Rahmen von strafrechtlichen Verfahren rekonstruiert und beurteilt. Das Ziel besteht in diesem Fall darin, das Vorliegen von schuldhaftem Handeln oder Unterlassen zu prüfen. Darüber hinaus werden v. a. in öffentlich skandalisierten Fällen Gutachterinnen und Gutachter beauftragt oder parlamentarische Untersuchungsausschüsse eingesetzt, um die Ursachen und Hintergründe für das Scheitern des Kinderschutzes aufzuklären sowie einem berechtigten öffentlichen Interesse nach Aufklärung nachzukommen. Vereinzelt gab es außerdem wissenschaftliche Modellprojekte, wie beispielsweise in Rheinland-Pfalz unter der Leitung von Prof. Dr. Christian Schrapper (Schrapper, u a. 2012) oder in Schwerin unter der Leitung von Prof. Dr. Reinhart Wolff (Wolff, u. a. 2013). Insofern gibt es in Deutschland weder erprobte Verfahren zur Analyse von problematischen Fallverläufen noch hat sich eine Kultur der verbindlichen, kritischen Reflexion von Fällen etabliert, die es sich zum Ziel gesetzt hat, schwierige Verläufe systematisch mit dem Ziel der Qualitätsentwicklung genauer zu betrachten.
Entscheiden sich Jugendämter für die Rekonstruktion von problematischen Fallverläufen mit externer Begleitung, um daraus für die Zukunft zu lernen, bestehen einige Rechtsunsicherheiten. So bedarf es grundsätzlich der Einwilligung der Eltern, damit anvertraute Daten in einen dialogischen Analyseprozess mit allen am Fall beteiligten Fachkräften eingebracht werden können. Zudem gibt es kein Zeugnisverweigerungsrecht für externe Moderatorinnen und Moderatoren oder wissenschaftliche Begleiterinnen und Begleiter. Das bedeutet, dass gerade bei laufenden strafrechtlichen Verfahren eine erhöhte Sensibilität in der Untersuchung der Fälle vonnöten ist (Meysen, u. a. 2013).
Anders verhält es sich in England. Hier kann auf eine lange Geschichte von Fallanalysen zurückgeblickt werden. Sie werden von flächendeckend eingerichteten regionalen Kinderschutzboards (LSCB) durchgeführt bzw. veranlasst. 2013 wurden mit Herausgabe der Richtlinien „Zusammen arbeiten, um Kinder zu schützen“ Änderungen auf Grund der Empfehlungen von Prof. Eileen Munro vorgenommen. Nach wie vor sind die LSCBs verpflichtet, alle Fälle, in denen ein Kind zu Tode kam, schwer verletzt, missbraucht oder vernachlässigt wurde, zu untersuchen. Hinzugekommen ist, dass nun ein sogenannter Lern- und Verbesserungsrahmen (Learning and Improvement Framework) geschaffen werden muss. Dabei werden auch minder schwere Fälle aufgegriffen und analysiert. Im Mittelpunkt der Fallanalysen steht damit die Ermöglichung und Sicherung von Lernerfahrung, die zu einem dauerhaften Optimierungsprozess der Qualitätssicherung und -entwicklung beiträgt. Eine weitere Chance der neuen Munro-Richtlinien liegt in Änderungen hinsichtlich der Methodologie. Zuvor gab es keine methodologischen Vorgaben zur Durchführung von Fallanalysen. Nun liegen Richtlinien vor, an denen sich die jeweils angewandte Untersuchungsmethode orientieren muss. Im Mittelpunkt der Richtlinien steht eine systemische Herangehensweise.
Die Abschlussberichte der Analyseprozesse müssen in England stets veröffentlicht werden. Dies wird z. T. sowohl bei den Fachkräften als auch bei den für den Analyseprozess verantwortlichen Personen kritisch gesehen.
Obwohl auch in England die Strafverfolgungsbehörden Zugriff auf die Ergebnisse der Analyse haben, werden Fallanalysen auch dann durchgeführt, wenn parallel strafrechtliche Untersuchungen stattfinden. Sollten im Rahmen der Analyse des Falles strafrechtlich relevante Tatbestände deutlich werden, die ein grob fahrlässiges, schuldhaftes Tun oder Unterlassen der Fachkräfte darstellen, so wären die den Analyseprozess durchführenden Fachkräfte verpflichtet, dies zur Anzeige zu bringen. Beides wird den Fachkräften vor Beginn der Untersuchung transparent gemacht.
Grundlagen und Ausgangshypothesen einer systemorientierten Analyse
Mit dem Ziel, eine für Deutschland praktikable Methode für Fallanalysen zu entwickeln, orientiert sich das NZFH im Rahmen des Projektbereichs „Lernen aus problematischen Kinder-schutzverläufen“ an dem systemischen Ansatz, wie er vom Social Care Institute for Excellence (SCIE) bereits praktiziert wird. Dies eröffnet die Möglichkeit, die Ergebnisse beider Länder – trotz im Detail abweichender Vorgehensweisen – vergleichbar zu machen.
Bei der Entwicklung einer adäquaten Methode geht das NZFH zunächst von folgenden Prämissen aus:
Entstehungsgeschichte kritischer Einflussfaktoren: Tragisch verlaufenen Fällen liegen nicht ein einzelner „Fehler“, sondern in der Regel komplexe Ursachen und Hintergründe zugrunde. Das bedeutet, dass Fallverläufe oder Entscheidungsprozesse zeitlich rekonstruiert werden müssen, um Zusammenhänge erkennen zu können.
Relevante Einflussfaktoren: Um Lehren für die Zukunft ziehen zu können, gilt es herauszufinden, welche Faktoren das Handeln und die Entscheidungen der Fachkräfte positiv wie negativ beeinflusst haben.
Verhinderung frühzeitigen Erkennens von Fehlentwicklungen: Es ist davon auszugehen, dass kritische Entscheidungen oder fehlerhafte Handlungen nicht gänzlich zu vermeiden sind. Analysen sollten deshalb auch dem Ziel dienen, folgende Erkenntnisse zu gewinnen: Welche Faktoren im System – und nicht allein bei einer Person – haben verhindert, dass Fehlentwicklungen frühzeitig erkannt wurden? Und was kann in Zukunft dazu beitragen, rechtzeitig Fehlentwicklungen oder riskante Entscheidungen zu erkennen und zu korrigieren, um fatale Verläufe zu verhindern?
Diese Prämissen gehen einher mit den Grundannahmen des systemischen Ansatzes:
- In der gleichen Situation verhalten sich unterschiedliche Menschen gleich bzw. ähnlich. Insofern ist es nicht sinnvoll, „Fehler“ als individuelles Problem zu betrachten.
- Nicht nur der Mensch, sondern auch das organisatorische Design, d. h. das System, in dem sich die Menschen bewegen, beeinflussen Arbeitsweisen, Entscheidungen und damit das Ergebnis. Insofern können Menschen in Organisationen nicht immer frei wählen, wie sie sich verhalten. Aus diesem Grund ist es notwendig, im Rahmen des Risiko- und Fehlermanagements immer auch die organisationalen Rahmenbedingungen und die Einflüsse „des Systems“ zu betrachten.
Handlungsleitend für die systemorientierte Analyse sind drei zentrale Prinzipien:
1. Vermeidung von Verzerrungen durch eine rein rückblickende Betrachtung
Grundsätzlich wird unterstellt, dass die Fachkräfte gute Arbeit leisten wollen und nicht böswillig eine Verletzung oder gar den Tod eines Kindes riskieren. Insofern wird unterstellt, dass Entscheidungen, die sich rückwirkend als falsch erwiesen haben, zu dem Zeitpunkt, zu dem sie getroffen wurden, den Fachkräften als sinnvoll, geeignet und „richtig“ erschienen sind. Vor diesem Hintergrund ist es nicht effektiv, mit dem Wissen von heute Entscheidungen von gestern oder vorgestern zu beurteilen. Stattdessen muss es vor allem darum gehen, sich in die damalige Zeit zurückzuversetzen und den Fall vor dem Hintergrund des damals vorhandenen Wissens zu rekonstruieren. Wichtig ist es dabei, das Handeln einzelner Personen in einen größeren Kontext zu stellen und es innerhalb dieses Kontextes zu verstehen. Dabei geht es um Fragen wie: „Warum hat jemand damals so entschieden?“ und „Warum erschien die Entscheidung damals sinnvoll und was hat verhindert, dass die Fachkräfte gemerkt haben, dass es sich um eine Entscheidung mit riskanten oder kritischen Folgen handelt?“.
2. Bewertung der Praxis stets in Verbindung mit der Suche nach Einflussfaktoren/Ursachen
Viele Analysen enden, wenn der vermeintliche Fehler gefunden ist (z. B. eine persönliche Inaugenscheinnahme des Kindes wurde nicht durchgeführt). In der systemorientierten Analyse wird dieser „Fehler“ zum Ausgangspunkt des eigentlichen Analyseprozesses. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie es zu einer riskanten oder falschen Entscheidung oder einer kritischen Handlung kommen konnte. Welche Einflussfaktoren waren wirksam?
3. Lehren ziehen für die Praxis und Organisation
Die Fallanalysen zeigen, dass ähnliche Risiken und Risikomuster, die zu kritischen Entscheidungen und Fehlern führen, immer wieder auftreten. Die systematische Analyse von Fällen eröffnet die Möglichkeit, solche wiederkehrenden Risikomuster zu erkennen, um dann gezielt Schlussfolgerungen für zukünftiges Handeln und Arbeitsstrukturen innerhalb der Organisationen ziehen zu können.
Ergebnisse zur interinstitutionellen Kooperation und Kommunikation
Im Folgenden werden vier ausgewählte Ergebnisse aus Fallanalysen, die von SCIE und NZFH durchgeführt wurden, gegenübergestellt. Der Schwerpunkt liegt dabei im Bereich der Kooperation und Kommunikation zwischen verschiedenen Institutionen. Leitend sind bei diesem Ländervergleich folgende Fragen: Gibt es deutliche Unterschiede in den Ergebnissen auf deutscher und englischer Seite? Oder lassen sich ähnliche, wiederkehrende Risikomuster erkennen? Und: welche Schlussfolgerungen lassen sich aus dem Ländervergleich ziehen?
Obwohl die Grundprinzipien und das Untersuchungsinteresse von SCIE und NZFH gleich sind, gibt es im methodischen Vorgehen einige Unterschiede. Da es in Deutschland weder finanzielle noch zeitliche Ressourcen für Fallanalysen gibt, hat das NZFH mit Blick auf die Entwicklung einer praktikablen und alltagstauglichen Methode versucht, sowohl den zeitlichen Aufwand als auch die Zahl der beteiligten Personen zu begrenzen.
Vor der inhaltichen Darstellung der Ergebnisse daher vorab ein kurzer Überblick über die wichtigsten Aspekte im Vorgehen:
SCIE: Die Analyse wird von zwei unabhängigen, von SCIE geschulten und angeleiteten Personen begleitet (sog. „lead reviewer“). Aus den am Fall beteiligten Institutionen werden Personen benannt, die in einer sogenannten „case group“ und einem „review team“ zusammengefasst werden. In der case group sind diejenigen Fachkräfte vertreten, die im Fall mit der Familie gearbeitet haben. Das review team besteht aus Leitungskräften der beteiligten Institutionen. In Begleitung der lead reviewer führen die Mitglieder des review teams die Interviews mit allen am Fall beteiligten Fachkräften sowie den Eltern durch. Darüber hinaus werden in dieser Gruppe der Fallverlauf analysiert sowie die kritischen Punkte benannt. Gemeinsam mit der case group werden anschließend die kritischen Zeitpunkte bzw. Zeiträume im Hinblick auf ihre Hintergründe und Ursachen analysiert. Bisher wurden mehr als 60 Fälle in dieser Art analysiert. Der Zeitaufwand beträgt pro Einzelfall bis zu 25 Tage.
Die vom NZFH mit dem Ziel der Methodenentwicklung durchgeführten Analysen von drei Fällen wurden von zwei Wissenschaftlerinnen begleitet. Aufgrund der knappen zeitlichen Ressourcen wurde jeweils nur eine Fallanalysegruppe gebildet, an der alle Fachkräfte beteiligt waren, die mit der Familie gearbeitet haben (Öffentliche und Freie Jugendhilfe, Gesundheitshilfe). Mit Hilfe von Akten und Interviews mit Eltern und Fachkräften wurde der Fall durch die externen Begleiterinnen zunächst auf einem Zeitstrahl rekonstruiert. Anschließend wurde der Fallverlauf gemeinsam mit der Fallanalysegruppe analysiert, d. h. im Hinblick auf kritische Ereignisse oder Entscheidungen sowie deren Ursachen untersucht. Kriterien für die Auswahl der Fälle waren: Beteiligung am Programm der Frühen Hilfen, Misshandlung des Kindes trotz laufender Betreuung sowie das besondere Interesse des Jugend- und Gesundheitsamtes, aus diesen Fällen Lehren für das Programm, die Arbeitsweise sowie die Klientinnen und Klienten zu ziehen. Der zeitliche Aufwand für die Fachkräfte betrug ca. 11–14 Stunden. Die Auswertung dieses Arbeitsprozesses hat ergeben, dass es für die Leitungskräfte schwierig war, den Veränderungsbedarf aus den Ergebnissen abzuleiten, wenn sie nicht unmittelbar am Analyseprozess beteiligt waren. Aus diesem Grund werden in zukünftigen Fallanalysen die Leitungskräfte der beteiligten Institutionen – ähnlich wie in England – intensiver in den Rekonstruktions- und Analyseprozess einbezogen. Dies ist eine erste Konsequenz aus den bisherigen Erfahrungen.
Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse im Hinblick auf Schwierigkeiten in der Kommunikation und Zusammenarbeit verschiedener Institutionen dargestellt.
Ergebnis 1: Die Einschätzungen des Gefährdungsrisikos der unterschiedlichen beteiligten Fachkräfte werden nicht systematisch zusammengeführt.
In der deutschen Untersuchung zeigte sich, dass institutionsspezifische Instrumente oder Verfahren zur Gefährdungseinschätzung nicht systematisch zusammengeführt werden. Jede Fachkraft bzw. Einrichtung nimmt – meist mit Hilfe unterschiedlicher Instrumente und Verfahren – eine eigene Risikoeinschätzung vor. Die Einschätzungen, bzw. die Ergebnisse der anderen Fachkräfte/Institutionen, werden dabei nicht zu einer Gesamteinschätzung zusammen geführt. Erschwerend kommt hinzu, dass es keine strukturell gesicherten Orte für eine gemeinsame Gefährdungseinschätzung gibt und Helferkonferenzen bei großer Arbeitsbelastung nicht stattfinden. Die Folge ist, dass viele, mitunter unterschiedliche Gefährdungseinschätzungen nebeneinander stehen bleiben und nicht zu einem Gesamtbild zusammengeführt werden.
In England verhält es sich ähnlich. Auch hier werden Risikoanalysen der einzelnen Einrichtungen getrennt voneinander vorgenommen. Allerdings sind die Institutionen verpflichtet, eine gemeinsame Einschätzung vorzunehmen, in der die verschiedenen Analysen zusammengeführt werden. Die Qualität allerdings, mit der dies geschieht, ist in der Praxis häufig ineffektiv. Grund dafür ist u. a. dass die Institutionen den Begriff Risiko unterschiedlich definieren und damit unterschiedliche Kriterien für die Einschätzung des Gefährdungsrisikos verwenden. So versteht beispielsweise der Bewährungshelfer unter Risiko die Gefahr einer erneuten Straffälligkeit. Das Jugendamt dagegen definiert Risiko als die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Misshandlung des Kindes. Werden diese Unterschiede nicht deutlich besprochen, so besteht die Gefahr, dass es – wie in Deutschland – keine wirksame Zusammenführung von Risikoeinschätzungen gibt.
Anders als in Deutschland verhindert jedoch nicht Arbeitsüberlastung eine Aktualisierung der Risikoeinschätzung, z. B. indem dadurch Helferkonferenzen verhindert werden. Stattdessen zeigt sich ein Risikomuster in den Instrumenten der Risikoanalyse selbst. Insbesondere das Design und mangelhafte Bedienerfreundlichkeit der computergestützten Analysewerkzeuge führen zu einer fehler- bzw. mangelhaften Risikoeinschätzung.
Ergebnis 2: Unterschiede in der Risikoeinschätzung werden nicht deutlich oder nicht besprochen.
In Deutschland hat der ASD für den Fallbearbeitungsprozess die Federführung und ist für die Gefährdungseinschätzung verantwortlich. Obwohl Fachkräfte freier Träger oder der Gesundheitshilfe mitunter mehr und alltagsnahen Kontakt zur Familie haben, werden ihre Wahrnehmungen für die Risikoeinschätzung der Einschätzung des ASD untergeordnet. Auch werden Zweifel an der Angemessenheit der Risikoeinschätzung des ASD von Fachkräften anderer Dienste und Einrichtungen nicht nachhaltig eingebracht. Die Ursachen hierfür können u. a. in einem hierarchischen Gefälle zwischen Auftraggeber (Jugendamt) und Auftragnehmer (Freier Träger) sowie einer Tendenz zur Konfliktvermeidung liegen. Weiterhin scheuen Fachkräfte den erhöhten Zeitaufwand, der notwendig wäre, um sich über unterschiedliche Risikoeinschätzungen zu verständigen. Zudem finden Helferkonferenzen häufig anlassbezogen und mit dem Ziel einer zukunftsorientierten Hilfeplanung statt. Sie werden in der Regel (meist aus zeitlichen Gründen) nicht für ein vertieftes Fallverstehen und eine rückblickende Reflexion des gemeinsamen Arbeitsprozesses genutzt. Eine eingehende Risikoanalyse aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven findet somit nicht statt.
Darüber hinaus scheint eine quasi-demokratische Kultur den Prozess der Gefährdungseinschätzung zu bestimmen. Dies führt dazu, dass Mehrheitsmeinungen das Ergebnis dominieren und Minderheiten es trotz spezifischen Fachwissens schwer haben, sich durchzusetzen. So konnte beispielsweise eine psychiatrisch erfahrene Fachkraft ihre Alarmierung angesichts der zunehmend kritischen Verfassung einer psychisch erkrankten Mutter in die bestehende Risikoeinschätzung des Helfersystems nicht wirksam einbringen.
Ähnlich wie in Deutschland sind in England Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter (ASD) zuständig für die Risikoeinschätzungen. In der Praxis besteht jedoch keine Klarheit darüber, wer die Verantwortung für die Risikoeinschätzungen trägt. Die Zusammenarbeit von ASD und Fachkräften gelingt in Hinblick auf die Datensammlung sehr gut, bezüglich der Durchführung der Analysen jedoch weniger, da diese oft ausschließlich auf Seiten des ASD und nicht im Austausch mit den Fachkräften erfolgt. Dies führt dazu, dass – ähnlich wie in Deutschland – Unterschiede in Risikoeinschätzungen nicht zutage treten und nicht diskutiert werden. Häufig bestehen zudem datenschutzrechtliche Verunsicherungen, die die Fachkräfte in dem Glauben lassen, dass sie sich in Abwesenheit der Eltern nicht über die Arbeit mit der Familie austauschen dürfen – obwohl dies in Gefährdungsfällen durchaus möglich wäre.
Mehr noch als in Deutschland ist die multi-professionelle Zusammenarbeit im Kinderschutz in England systematisch geregelt. So sind die unterschiedlichen Professionen verpflichtet, in Gefährdungsfällen zusammenzuarbeiten. Auf eine Strategiesitzung folgen Kinderschutzkonferenzen sowie Kerngruppentreffen. Doch auch diese Treffen und Konferenzen verlaufen häufig routiniert sowie zukunfts- und prozessorientiert. Reflexion spielt – wie in Deutschland – eine geringe Rolle. Dies führt immer wieder dazu, dass ineffektive Strategien entwickelt werden, die weder den bisherigen Fallverlauf ausreichend berücksichtigen, noch Aussicht auf Erfolg haben. Beispiel: Die Konferenz stellt mit einer Mutter einen Sicherheitsplan gegen häusliche Gewalt auf, der beinhaltet, dass sie keinerlei Kontakt mit ihrem gewalttätigen Partner aufnimmt. Jeder in der Runde weiß aber, dass die Mutter dies nicht einhalten kann und wird. Trotzdem wird der Plan als nächster Schritt zum Schutz des Kindes vereinbart.
Was den Aspekt der Dominanz von Mehrheitsmeinungen betrifft, besteht das Risikomuster in England mehr in einer „Kultur der Höflichkeit“. Das bedeutet, dass nicht offen über Differenzen diskutiert oder diese konstruktiv ausgelotet werden. So weit möglich werden Konflikte vermieden, mit dem Ergebnis, dass die Beteiligten einer Konferenz in scheinbarem Konsens auseinandergehen.
Darüber hinaus lässt sich anhand der Untersuchungsergebnisse feststellen, dass Fachlichkeit mitunter nur einer Profession zugeschrieben wird. So erwarten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter oder die Polizei von Medizinerinnen und Medizinern eine fachliche Erklärung für die Ursachen von Kindesmisshandlung. Dies widerspricht jedoch einem unter Medizinerinnen und Medizinern üblichen, differentialdiagnostischen Vorgehen. Diese unterschiedlichen Erwartungen verhindern eine multi-perspektivische Betrachtung der Vorgänge: Jede Person sieht nur das, was sie sehen will.
3. Aktuelle Beobachtungen & Entwicklungen werden kaum in Bezug zur Geschichte des Falls gesetzt – die Hilfeverlaufsperspektive geht verloren.
In Deutschland besteht ein Risikomuster darin, dass Risikoeinschätzungen häufig auf die aktuelle Situation der Familie fokussieren. Das bedeutet u. a., dass Fachkräfte, die zu einem späteren Zeitpunkt in den Hilfeprozess einsteigen, Erfahrungen aus der Familien- und Hilfegeschichte zu wenig in ihre aktuelle Wahrnehmung einbeziehen können. Je länger ein Fall dauert, umso größer ist die Fluktuation im Helfersystem. Es besteht die Gefahr, dass bedeutsame Informationen verlorengehen oder nicht systematisch an neu hinzukommende Helferinnen und Helfer weitergegeben werden. Hinzu kommt, dass häufig die Zeit für eine intensive Aktenlektüre fehlt und sensible Informationen nicht immer in den Akten festgehalten werden.
Darüber hinaus stehen (die leiblichen) Eltern und Kinder als Klientinnen und Klienten im Fokus der Aufmerksamkeit, wodurch eine erweiterte (Lebenspartner, Freunde, Verwandte) und eine Mehrgenerationenperspektive (Großeltern) sowohl bei der Gefährdungseinschätzung als auch bei der Hilfeadressierung verloren gehen.
Auch in England geht die Fallhistorie oftmals im Rahmen der aktuellen Fallbearbeitung verloren. Die entsprechenden Computerprogramme erschweren es, sich einen Überblick über den Fallverlauf zu verschaffen. Zudem gibt es keinerlei Vorgaben für das Aktenstudium. Ob sie gelesen werden oder nicht, obliegt einzig den Fachkräften selbst.
Ein weiterer Einflussfaktor resultiert aus der Zusammensetzung der Konferenzen und Treffen sowie dem Informationsfluss zwischen denselben. An der ersten Strategiekonferenz nehmen – anders als in den Folgekonferenzen – nicht alle Fachkräfte teil, die direkt mit den Familien arbeiten. Dennoch werden hier wichtige Informationen vermittelt und Deutungen vorgenommen. So kommt es vor, dass Fachkräften, die bei der ersten Strategiekonferenz nicht anwesend waren, zentrale Informationen zur Beurteilung der Fälle entgehen. Im Nachhinein haben sie kaum die Möglichkeit, sich diese zu verschaffen. Auch können sie ihre Perspektive der Falleinschätzung nicht mehr einbringen. Auf diese Weise kann sich eine „falsche“ Risikoeinschätzung etablieren, die im späteren Verlauf nicht mehr im notwendigen Maße angepasst wird.
4. Viele Helferinnen sind nicht zwingend vernetzte Helferinnen.
In den Ergebnisauswertungen auf deutscher Seite zeigte sich, dass es an einer effektiven Vernetzung der einzelnen Helfersysteme innerhalb des Kinderschutzes mangelt. Es kommt vor, dass Fachkräfte sich wechselseitig – unausgesprochen und unbewusst – professionsspezifische Verantwortungsbereiche zuschreiben. So geht beispielsweise die Jugendhilfe davon aus, dass alle Fragen zur gesundheitlichen, medizinischen und therapeutischen Versorgung der Familie durch die Gesundheitshilfe geklärt sind. Diese geht wiederum davon aus, dass die Jugendhilfe alle Aspekte der alltagsnahen Unterstützung der Familie und Versorgung der Kinder abdeckt.
Auch datenschutzrechtliche Unsicherheiten behindern den fachlichen Austausch und beeinträchtigen die Entwicklung einer abgestimmten Hilfestrategie und eine vernetzte Fallbearbeitung. Dieser Mangel an Abstimmung kann auch zu widersprüchlichen Botschaften an die Eltern führen: Wenn beispielsweise eine psychisch erkrankte Mutter von Seiten der Erwachsenenpsychiatrie aufgefordert wird, mehr an sich zu denken, um eine psychische Krise zu verhindern - während die Jugendhilfe sie auffordert, sich vor allem mehr um ihre Kinder zu kümmern, um deren Wohlergehen sicherzustellen.
In England lässt sich im Hinblick auf die Aufgaben- und Verantwortungszuschreibungen eine vergleichbare Situation feststellen. Und auch hier gilt: Findet ein Wechsel innerhalb des Helfersystems statt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass der zurückliegende Verlauf der Fallgeschichten ausgeblendet wird.
Unsicherheiten im Umgang mit dem Datenschutz bestehen in England gleichermaßen. Das führt mitunter zu einem tautologischen Denken, das adäquates Handeln verhindert: Informationen können nur ausgetauscht werden, wenn es Hinweise für eine Kindeswohlgefährdung gibt. Doch das Wissen über eine mögliche Kindeswohlgefährdung kann wiederum nur erlangt werden, wenn Informationen ausgetauscht werden.
Resumee:
Wie der Vergleich der vier beispielhaften Ergebnisse aus der Analyse problematischer Kinderschutzverläufe in Deutschland und England zeigt, liegen in beiden Ländern ähnliche Resultate vor. Sie weisen darauf hin, dass die Herausforderungen vor allem aus dem Aufga-benbereich des Kinderschutzes resultieren und nicht allein ein individuelles, institutionelles oder nationales Problem darstellen.
Beide Länder setzen zur Vermeidung von risikoreichem fachlichem Handeln ähnliche Strategien ein, wie z B. standardisierte Instrumente und Verfahren. Die Fallanalysen zeigen jedoch, dass diese Strategien der Qualitätssicherung nicht geeignet oder ausreichend sind, um bestimmte Risiken zu reduzieren. Darüber hinaus gibt es vor allem in England deutliche Hinweise darauf, dass diese Strategien selbst neue Risiken produzieren können.
Mithilfe der systemorientierten Analyse wird deutlich, dass Veränderungen im Kinderschutz in ganz unterschiedlichen Bereichen notwendig sein werden, um die Gefahr von scheiternden Schutz- und Hilfeprozessen zu verringern.
Zentral erscheinen Modifikationen in den Bereichen:
- Instrumente und Verfahren
- Institutionelle Rahmenbedingungen, organisatorisches Design
- Kommunikation und Kooperation in und zwischen Institutionen
- Kultur der Konflikt- und Kritikfähigkeit im Helfersystem: offener Austausch und gemeinsame Reflexion aller am Kinderschutz beteiligten Fachkräfte
Literatur:
Meysen, Thomas; Schönecker, Lydia; Götte, Stefanie (2013): Rechtsgutachten zu Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Analyse problematischer Kinderschutzfälle. In: Beiträge zur Qualitätsentwicklung im Kinderschutz, Nationales Zentrum Frühe Hilfen (Hrsg.)
www.fruehehilfen.de
Schrapper, Christian; Schnorr, Vanesse (2012): RISIKO ERKANNT –
GEFAHR GEBANNT? BERICHT ZUM LANDESMODELLPROJEKT:
„Qualitätsentwicklung Kinderschutz in Jugendämtern in Rheinland-Pfalz“ 2009–2011,
Risikoanalyse als Qualitätsentwicklung im Kinderschutz. Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen in Rheinland-Pfalz (Hrsg.)
Kaiser-Friedrich-Straße 5a | 55116 Mainz
www.mifkjf.rlp.de | poststelle@mifkjf.rlp.de
Wolff, Reinhart; Biesel, Kay (2013): Das dialogisch-systemische Fall-Labor. Ein Methodenbericht zur Untersuchung problematischer Kinderschutzverläufe. In: Beiträge zur Qualitätsentwicklung im Kinderschutz, Nationales Zentrum Frühe Hilfen (Hrsg.)
www.fruehehilfen.de